Die Operetten-Revue "Wer, wenn nicht wir - Die Schwätzer in Gießen" mit Musik von Jacques Offenbach wurde bei ihrer ersten Aufführung im Stadttheater vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen.
Jacques Offenbach war in Wirklichkeit Gießener. Das wussten Sie nicht? "Wer, wenn nicht wir - Die Schwätzer in Gießen" bringt es, in angemessen geschwätziger Form natürlich, an den Tag. Die Operetten-Revue mit Musik hauptsächlich von Offenbach feierte am Samstag im Stadttheater Premiere und landete einen mit Begeisterung aufgenommenen Coup. Denn das Theater hat es geschafft, eine lange nicht mehr gespielte Opéra bouffe des deutsch-französischen Komponisten so auseinanderzunehmen, zu ergänzen und neu zusammenzubasteln, dass daraus eine bunte und unterhaltsame, mit Anspielungen und frechen Anmerkungen gespickte Angelegenheit wurde, die ganz und gar gießenerisch ist.
Aber von vorne, die Angelegenheit ist einigermaßen verwickelt: Erstens lohnt es sich, im Jahr des 200. Geburtstages des Erfinders einer ganz eigenen Art von amüsanter, oft scharfzüngig-kritischer Operette, seine tolle Musik wieder auf die Bühne zu holen. So dachte sich offenbar auch die Regisseurin, der wir bei der Hauptprobe zu einer Aufführung der Operette "Les Bavards" begegnen - was nicht ganz zufällig übersetzt "Die Schwätzer" bedeutet. Diese Regisseurin wirkt überraschend vertraut: Verkörpert wird sie von Astrid Jacob, der Kabarettistin von der Lach- und Schießgesellschaft, die auch tatsächlich die Inszenierung der Gesamtchose in der Hand hat.
Anarchische Chose
Und diese Chose bedeutet dann, zweitens, eine geradezu anarchische Anverwandlung des Stücks. Initiiert werden die Irritationen von den drei Gießener Schwätzern Mariechen (Karola Pavone), Waldemar (Tomi Wendt) und Justus (Christian Richter). Moniert wird der fehlende Aktualitäts- und Gesellschaftsbezug lautstark vor allem durch Mariechen, die Geschlechterstereotype, aber auch überhaupt die zu geringe Präsenz weiblicher Akteure in dem ganzen Theater-Business beklagt. Dies übrigens stimmlich ausgezeichnet. Viel Zustimmung aus dem (echten) Auditorium.
Diesen Eingriff in das Stück darf man also ohne Übertreibung als Willensbekundung des Publikums schlechthin begreifen, für das die Schwätzer stehen. Und er zielt bei aller revueartiger Leichtigkeit, die sich daraus entspinnt, auf so etwas wie eine Gretchenfrage des Theaters, nämlich die nach der "Werktreue". Eine Operette ist für solche Fragen gut geeignet, denn diese Gattung steckte schon bei Offenbach nicht nur immer voller zeitpolitischer Anspielungen, sondern folgte auch bei der Musikzusammenstellung keineswegs einem Dogma der Authentizität. Noch nach dem Tod des Komponisten wurde Material von ihm benutzt und zu neuen Stücken nachkomponiert. Das macht sich der Schwätzer-Abend dann gehörig zunutze, spätestens, nachdem Offenbach selbst (Sebastian Songin) als Deus ex machina vom Himmel geschwebt ist und die Regisseurin faktisch abgesetzt hat. (Dass dadurch wie durchs Hintertürchen doch wieder die Umsetzung einer Komponistenintention suggeriert wird, darf boshafterweise angemerkt werden.) Diese Fassung stammt aus der Feder der Kölner Karnevalisten Jürgen Nimptsch und Lajos Wenzel, die möglichst viele Gießen-Bezüge hineingepackt haben. Die Texte holpern dabei oft nicht besonders elegant dahin, schlichte Reime passen sich unterschiedlich geschickt den Melodien an.
Aber darum geht es vielleicht nicht primär. Effektvoll ist vielmehr die lärmige Buntheit des Treibens auf der Bühne, deren Bewohner sich auch in ihren Kostümen (Heiko Mönnich) allmählich hin zum Zeitgemäßen wandeln. Das ursprüngliche Stück, eine Posse um eine Art von Wettkampf darin, sich gegenseitig in Grund und Boden zu quasseln - mit der Aussicht auf reichen pekuniären Gewinn und gleich noch die Hand der Geliebten -, dient bloß noch als loses Gerüst für eine Folge von Nummern, deren Dramaturgie zwei Motivationen hat: Zum einen die Präsentation des ganzen Theaters mit möglichst vielen Spielarten des Komischen, zum anderen die Einbeziehung der Stadt selbst.
Von Ballett bis Kabarett
Da gibt es quirlige und hoch unterhaltsame Balletteinlagen (Choreographie: Tarek Assam), kunstvolle Arien aus anderen Offenbach-Opern, aber natürlich als Parodie, also mit verändertem Text, oder echtes Kabarett. Das gelang unterschiedlich gut; vielleicht war die stilistische Spannweite zu groß. Die Arie der Olympia aus "Hoffmanns Erzählungen" war in Carla Maffiolettis Performance grandios puppenhaft und nur ein klein bisschen spitz, das "Lied vom Kleinzack" überforderte andererseits Christian Richter gänzlich, während wiederum der Auftritt von Martin Koob (zu Besuch vom Gießener Keller Theatre) als "Schlammbeiser" genau den richtigen, kabarettistischen Tonfall traf. Christian Tschelebiew sang den Sarmiento souverän mit leichtem Buffo-Einschlag. Tadellos war auch die Solange von Sofia Pavone. Der Chor (Einstudierung: Martin Spahr) präsentierte sich bei seinen lebhaft inszenierten Auftritten in ausgezeichneter Verfassung.
Besonders im ersten Akt diente diese Vielfalt auch einer frech-aufmüpfigen Form von Kritik: Gelästert wurde über den Gießener Öffentlichen Nahverkehr, zur Sprache kamen Armut und Wohnungsnot, vor allem aber auch immer wieder Geschlechterverhältnisse (übrigens ist das im Zentrum stehende Liebespaar ohne jede Aufdringlichkeit lesbisch) und das liebe Geld, zum Beispiel in Form städtischer Bußgeldeinnahmen. Dieser Biss fehlte dann im zweiten Teil, der eher einer losen Referenz auf Gießener Institutionen huldigte, vom Gießkannenmuseum über die älteste Tanzschule bis zur Universität. Musikalisch blieb es aber bis zum Schlagerhaften bunt, am Ende vielleicht ein bisschen "over the top". Einen der Höhepunkte stellte sicherlich die Gießkann'-Can-Can-Kantate dar. Das Orchester unter Leitung von Andreas Kowalewitz setzte all diese Arrangements (Thomas Guthoff) anpassungsfähig und mit Spaß um. Achso: und Bad Ems, der Ort der Uraufführung 1862, ist jetzt zum Vorort von Gießen erklärt.
Karsten Mackensen, 28.10.2019, Gießener Anzeiger