Schauspieler David Bennent mit Erzählungen von Tschechow zu Gast im Stadttheater
Eintauchen in die Sprachkunst von Anton Tschechow – das kann kaum einer so brillant wie David Bennent (53). Der Schauspieler gastierte mit seinem Tschechow-Abend am Sonntagabend im Gießener Stadttheater und ließ die feinsinnige Ironie des russischen Schriftstellers vor dem geistigen Auge seiner Zuhörer aufleben.
Rund 800 Kurzgeschichten hat Tschechow (1860 – 1904) geschrieben, aus denen Bennent das Programm seiner Lesungen jedesmal neu zusammenstellt. Die Geschichten gehen fließend ineinander über, denn Titel oder Hintergründe enthält der Rezitator dem Publikum vor. Dennoch war dies mehr als eine gewöhnliche Lesung: Bennent präsentierte die Geschichten wie ein Schauspiel: Nichts überließ er dem Zufall. Der Schweizer bot präzise Gesten ebenso wie eine dezente, präzise, raumfüllende Sprache. So schlüpft er etwa in die Rolle eines Trinkers, als er das „Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel“ vortrug – diese Überschrift einer Tschechow-Geschichte gab der Lesung ihren Namen und wurde zugleich zum Programm. Der Schweizer Charakterdarsteller, der nach eigenem Bekunden nie eine Schauspielschule besucht hat, betrat schwankend die Bühne, in der Hand eine Flasche, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. Dabei vergaß er nicht, dem Publikum in der ersten Reihe auch einen Schluck daraus anzubieten.
Anton Tschechow ist in Deutschland vor allem als Dramatiker durch seine bis heute vielgespielten Stücke wie „Drei Schwestern“, „Die Möwe“ oder „Der Kirschgarten“ bekannt. Der Russe schafft es, feine Ironie und herbe Situationskomik in perfekte Kurzgeschichten zu packen. So skizziert er in „Ein Drama“ den Besuch einer begeisterten Verehrerin bei ihrem Lieblingsschriftsteller. Dort hat sie nichts Besseres zu tun, als ihm ihr selbstverfasstes, grottenschlechtes Drama vorzulesen. Die Geschichte endet mit dem Erschlagen der Verehrerin und einem Freispruch für den Dichter. Mit seiner etwas rauen, unverwechselbaren Stimme schaffte Bennent es, den richtigen Ton anzuschlagen.
Seine Vortragskunst verlangt ein Höchstmaß an Konzentration – von beiden Seiten. Bennent verleiht den Figuren Ausdruck und die Zuhörer müssen dem literarischen Ausflug ins Russlands des späten 19. Jahrhunderts konsequent folgen; ein kurzer Moment der Unkonzentriertheit – und der Handlungsbogen ist nicht mehr greifbar. Folgerichtig gab es keine Unterbrechung, keine Pause.
Nach 90 Minuten waren alle Beteiligten zufrieden und erschöpft. Anschließend stellte sich der Schauspieler, der 1979 mit der Rolle des Oskar Matzerath in „Die Blechtrommel“ weltberühmt wurde, den Fragen des Publikums im Foyer des Stadttheaters. Begleitet wurde der Schweizer von einem Informationsstand der Organisation „Terre des hommes“, für dessen Arbeit er sich einsetzt. Er warb für sie mit den Worten: „Heute begehen wir den Totensonntag und gedenken der Toten der beiden Weltkriege. Ungeachtet dessen werden deutsche Waffen verkauft, mit denen wehrlose Kinder getötet werden.“
Barbara Czernek, 19.11.2019, Gießener Anzeiger