Michael Hofstetter dirigiert am Stadttheater zum Auftakt der neuen Spielzeit sein letztes Sinfoniekonzert. Der Generalmusikdirektor setzt dabei auf Beethoven und Zimmermann.
Minutenlanger Applaus, Standing Ovations und der Schluss des Finalsatzes als Zugabe. Das gefeierte erste Sinfoniekonzert der neuen Spielzeit ist gleichzeitig sein letztes: Generalmusikdirektor Michael Hofstetter beendet zweieinhalb Jahre vor der Zeit seinen Vertrag und wird am 13. Oktober zum letzten Mal am Opernpult stehen. Schon bei seinem ersten Engagement am Stadttheater von 1995 bis 1998 verließ er das Haus zwei Jahre vor Kontraktende.
Intendantin Cathérine Miville verweist am Dienstag auf Hofstetters Weggang nach siebeneinhalb Jahren und auf das nun geänderte Konzert- und Opernprogramm. Der Dirigent gestaltet danach den Einführungsvortrag mit. In der Konzertpause keimt dann hier und da die Frage auf, ob das heute tatsächlich Hofstetters letztes Konzert sei.
Man soll ja niemals nie sagen. Zumal der Chefdirigent der hochrangigste Künstler ist, den sie in Gießen lange Zeit hatten. Immerhin: Der Sensible sieht nun wieder gesünder aus als in der vergangenen Spielzeit, als er hager wirkte, angezählt. Mit der »Eroica«, der dritten Sinfonie von Ludwig van Beethoven, liefert Hofstetter am Abend zu den langwierigen Querelen sein musikalisches Statement. Das Philharmonische Orchester Gießen spielt zum Auftakt von Bernd Alois Zimmermann »Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne.«
Zimmermann, dessen Oper »Die Soldaten« als Schlüsselwerk der Moderne gilt, nannte seine letzte Komposition, ehe er 1970 den Freitod wählte, ekklesiastische (also herausgerufene) Aktion. Als inhaltliche Grundlage dienen biblische Verse und die Legende vom Großinquisitor aus Dostojewskis Roman »Die Brüder Karamasow«. Der Großinquisitor, eine Art Antichrist, besucht einen Gefangenen und zieht mächtig vom Leder, verkündet, dass der Gefangene morgen sein Leben aushauchen werde, ob er schuldig sei oder nicht. Der Gefangene, in Assoziation zur Christusfigur, ist verzweifelt, aber er vergibt. Die letzten Worte lauten: »Weh dem, der allein ist.«
Zimmermanns Musik lebt von Soundfetzen. Drei von sechs Posaunen sind im Zuschauerraum positioniert. Musikalischer Höhepunkt ist der vom Schlagwerk gespielte Blues vor der abschließenden Bach-Kantate mit eingebauten Dissonanzen. Das Orchester hat das »Unrecht« im Griff. Als Sprecher schinden Stadttheater-Allrounder Abdul-M. Kunze und Schauspieler Sebastian Songin Eindruck, während Bariton Martin Bruns bei seinem ersten Stadttheater-Auftritt das Deklamierte in einem Singsang-Duktus wiederholt. Der Hörspielcharakter gewinnt Kontur. Alles geschieht in diesem pluralistischen Stil gleichzeitig. Oder wie es Hofstetter in der Einführung formuliert: »Die Zeit ist eine Kugel.«
Der Beethoven nach der Pause setzt Zimmermanns Skeptizismus fort, freilich mit tonalen Mitteln. Beethoven widmet seine dritte Sinfonie zunächst Napoleon, bis er spitzkriegt, wem er da huldigt. Als Napoleon sich zum Kaiser krönen lässt, wird für Beethoven aus der Lichtgestalt ein Despot. Der Komponist zieht seine Widmung zurück. Und so führt der Abend mit einem gut aufgelegten Orchester, das die vier Sätze beherzt angeht, und einem lächelnden Hofstetter vom Dunkel des Zweifels ins Licht der Erkenntnis.
Manfred Merz, 29.08.2019, Gießener Allgemeine Zeitung