Nach einem glänzenden Beginn mit Poulencs Kurzoper "Die menschliche Stimme" verliert sich Wolfgang Hofmanns Inszenierung leider im zweiten Teil in sinnfreiem und banalem Klamauk.
Es ist bedauerlich, dass "Glaube. Liebe. Abschied", die neue Opernproduktion am Gießener Stadttheater, die am Samstag Premiere hatte, keine Pause vorsieht. Angeregt durch die spannende Musik des ersten Teils, im Geiste die Implikationen dieses Psychodramas weiterspinnend, die existenziellen Ängste noch einmal auslotend und den ungewohnt kurzatmigen, durch Pausen zerrissenen Klängen nachsinnend, würde man rasch dem Gebäude entweichen und könnte die Befriedigung über einen gelungenen Theaterabend ins Wochenende mitnehmen. Leider schließt sich an diesen ersten Teil, bestehend aus der Kurzoper "Die menschliche Stimme" von Francis Poulenc, unvermittelt noch ein konzeptloses Sammelsurium beliebiger Musik von Bach bis Bruckner als eine Art Pseudo-Fortsetzung an. Das ist nicht nur verzichtbar, es schadet Poulenc.
Angesichts des enormen Gefälles zwischen dem hohen Anspruch der eigentlichen Oper und dem kläglich missratenen Versuch des Regisseurs, Wolfgang Hofmann, unter dem pompös bedeutungsschwangeren Obertitel des Programms eine thematische Weiterspinnung zu erfinden, verlangte dieser Abend eigentlich nach zwei völlig getrennten Besprechungen. Denn der sinnfreie Klamauk (dazu später mehr) des zweiten Teils drohte ernsthaft, die musikalische Leistung und die durchaus auch inszenatorische Seriosität des ersten zu beschädigen. Was Tanja Kuhn da leistete, war enorm, und zwar sängerisch wie auch darstellerisch. Alleine, nur in Gesellschaft des Orchesters, schaffte sie es über gut 40 Minuten, die Abgründe, die Lügen, die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit einer von ihrem Partner verlassenen Frau auf der Bühne zu manifestieren und regelrecht physisch greifbar zu machen. Medium der Verständigung ist ein Telefon - man lauscht einem gespenstisch realistischen Telefongespräch, dessen Verlauf und Inhalt nur aus der Perspektive der namenlosen Frau wahrzunehmen sind.
Die Oper basiert auf einem Theaterstück von Jean Cocteau aus dem Jahr 1930. Textlich praktisch unverändert von Poulenc zunächst für Klavier und Gesang komponiert, schrieb er auch eine Fassung für großes Orchester, die 1959 an der "Opéra Comique" in Paris ihre Uraufführung hatte. Hofmann verlegt die Handlung in den kalt neonbeleuchteten, der Zeit enthobenen, nächtlichen Wartebereich eines modernen Flughafens (Bühne: Lars Peter). Dieses Bild ist von großer Stimmigkeit. Als Ort der Einsamkeit globalen Nomadentums schlechthin steht er für Verbindung mit der Welt und der völligen Entfremdung von ihr. Auch das Mobiltelefon, das die junge Frau im modisch-lässigen Hosenanzug (Kostüme: Claudia Krull) hier natürlich verwendet, ist Ausdruck par excellence einer Anwesenheit des Abwesenden, einer paradoxen Form der Verbindung im Getrenntsein. Einsamer als am Smartphone um drei Uhr früh kann man kaum sein.
Kuhn gelingt es, alle Facetten ihrer Gefühlsumschwünge, alle Verletztheit, alle Aggressivität, alle Zärtlichkeit mit ihrer Stimme auszudrücken, die dabei eine enorme Breite an Registern bedient, vom fast gesprochen Deklamierenden über leiseste Lyrismen und erotische Süße bis zum dramatischen Ausbruch. Aufs Feinste interagiert Kuhn stimmlich mit ihrem eigentlichen musikalischen Partner, dem Orchester. Noch jede Pause dieser überaus fragmentierten Musik mit ihren markanten Motiven wurde so zum Erlebnis - das ist auch der sorgfältigen und sensiblen Orchesterleitung durch Florian Ludwig zu verdanken.
Und dabei spielt Kuhn noch ausgezeichnet. Dass manchmal eine gewisse unbeabsichtigte Theatralik durchschlägt, tut dem keinen Abbruch - eher schon die offenbar von Hofmann gewünschten pseudo-komischen Wendungen, die dem Stück unangemessen sind. Dass der Charakter der Frau weder frivol noch tragisch sein soll, wie Cocteau es selbst formulierte, bedeutet nicht, dass die Figur zum Lachen ist. Das Tragische dieses Stücks ergibt sich aus seiner Normalität, ja fast Banalität, aus seinem Realismus.
Was mag Hofmann geritten haben, in dieses Flughafenszenario dann weitere Protagonisten (Reisende, Reinigungspersonal, einen Piloten) einzuladen, die überwiegend geistliche Musik singen? Mit Poulenc hat das jedenfalls - über allgemeine und triviale Assoziationen hinaus - nichts zu tun. Es gibt doch wirklich viele Möglichkeiten, einen solchen Einakter zu ergänzen:
Immer wieder gibt es Aufführungen gemeinsam mit Béla Bartóks "Herzog Blaubarts Burg", schlüssig wäre eine Kopplung mit Arnold Schönbergs "Erwartung". Was hier dagegen gemacht wurde, kommt einem vor, wie das Ergebnis eines höchst oberflächlichen Brainstormings: je nahe liegender und banaler die Assoziation, je simpler und substanzloser der Einfall, desto besser. Da drängt es ein Pärchen zu Musik von Bach ("Schlafe mein Liebster") zum Koitus auf der Sitzbank des Wartebereichs, Haydns "Welche Labung für die Sinne" dient der Werbung für Nikotingenuss, Bruckners "Dieser Ort ist von Gott geschaffen" fetischisiert den Flughafen, und so weiter - es wurde dann immer lächerlicher. Zumal Hofmann auch noch glaubte, das Ganze möglichst slapstickhaft inszenieren zu müssen. Eine Dramaturgie ergab sich da nicht und auch kein Zusammenhang mit dem Anfang. Schade, vor allem für Poulenc.
Karsten Mackensen, 23.12.2019, Gießener Anzeiger