Dieser Frauenheld kriegt sie alle. Und am Schluss eins auf die Mütze. Der Tanzabend "Don Juan" von Tarek Assam widmet sich im Stadttheater einem lüsternen Mythos. Musik paart sich mit nackter Haut.
Frage: Was macht einen spektakulären Tanzabend aus? Antwort: Die Musikalität des Choreografen. Auch wenn die nackten Tatsachen bei diesem "Don Juan" zu überwiegen scheinen, ist es die Musik, die den Ton angibt. Kapellmeister Martin Spahr zelebriert im ersten Teil aus dem Orchestergraben dämonische Klänge, von der Minimal Music bis zur zeitgenössischen Moderne. Die Szenen zu Sound-Spezialitäten von Charles Ives bis zu John Psathas garantieren Impulsivität.
Zu Beginn spielt das Philharmonische Orchester Gießen live, nach der Pause illustrieren als Kontrast zu den explosiven Tanzfiguren Streicher vom Band (und nicht aus Gießen) das Geschehen. Choreograf Tarek Assam modelliert die spannungsreichen Bewegungen seiner Compagnie in diese Klangwelten hinein, er lässt nur wenige empathische Momente liegen, hat ein Gespür für den Takt, für die Betonung, für das Aufreizende im Reizenden.
Der in seiner Grazie nicht zu überbietende Pas de deux zwischen der geschmeidigen Julie de Meulemeester und Jeremy Curnier als Verführungszeremonie zu Osvaldo Golijovs "Last Round" direkt vor der Pause wäre der Höhepunkt des Abends, wenn der prächtige Curnier in seiner Rolle als Don Juan nicht im zweiten Teil Hand an die unvergleichlich biegsame Caitlin-Rae Crook legen würde. Da wird es mucksmäuschenstill im Rund.
Anders als in der Originallegende um den zügellosen Frauenhelden folgt in der Lesart von Tanzdirektor Assam auf die Verführung die Vergewaltigung. Am Samstag erntet dieser "Don Juan" im Großen Haus des Stadttheaters minutenlangen Applaus.
Der Untertitel "Die Illusion des Ewigen" lässt ahnen, dass der Mann per se nicht viel dazulernt in seinem Leben. Längst besitzt er das Privileg des Begehrens nicht mehr allein.
Auch die Frauen hauen heute auf den Putz und stellen die Frage: Gibt es den idealen Partner? Eher nicht. Und Sex? Wenn es sein muss mit Gewalt. Am Ende verschwindet Don Juan in seiner urzeitlichen Mutter Venus.
Zu Beginn entsteigt er vor waberndem Trockeneisnebel diesem steinernen Monstrum ebenso wie seine Mitstreiter. Ausstatter Lukas Noll hat dazu die Venus von Willendorf in den Bühnenhintergrund gepflanzt. Im Original nur elf Zentimeter hoch, wird aus der knapp 30 000 Jahre alten Skulptur eine imposante Styroporfigur von viereinhalb Metern Höhe. Sie hat alle ihre Kinder im Blick.
Als kleine Venus und quasi Assistentin der Big Mother agiert Magdalena Stoyanova, die nach einer Verletzungspause wieder genesen ist. Mit ihrer Ausstrahlung nimmt sie jeden Raum für sich ein. Stoyanova leitet ihren Don Juan an, doch über allzu viel Grips verfügt dieser archaische Typ nicht, der bis zu den Knien Fell trägt.
Puppen fügen den lüsternen Momenten auf der Bühne eine weitere Dimension hinzu. Das gilt auch für die Masken der Tänzer mit dem Barbie-Puppen-Gesicht aus den 1970er Jahren, das die vielen Frauen des Don Juan symbolisiert. In live gedrehten Videoprojektionen vergrößert Assam die Ausschnitte der Begierden auf zwei Leinwänden. Nach sinnlichen und sinnlosen Momenten trauter Zweisamkeiten in luftigen Batikleibchen, die Motive von Rubens-Gemälden zeigen, tauchen schwarze, Fechtmasken tragende Kreaturen auf, um den Müll der Leidenschaft zu entsorgen.
Maria Adriana Dornio, Chiara Zincone, Michael D’Ambrosio und Sven Krautwurst beben vor Kraft. Den Schlusspunkt setzt eine bravourös getanzte Ensembleszene der homogenen Tanzcompagnie zum musikalischen Filetstück des Abends: dem "Ritus" des Schweizers Daniel Schnyder als Streichorchesterorgie.
Manfred Merz, 10.02.2020, Gießener Allgemeine Zeitung