Nach der Stille: Kammermusik-Matinee im Foyer des Stadttheaters sorgt für ein bedeutendes Lebenszeichen
„Der Sommer marschiert ein“, mochte man mit den Worten Gustav Mahlers ausrufen! Festlich fröhlich, nicht ohne Würde auftretend, luftig mild, lebendig und tanzfreudig, verspielt und mit Witz, dann schließlich mit voller, sonniger Prachtentfaltung hielt der musikalische Sommer Einzug im Foyer des Stadttheaters. Die Kammermusik-Matinee am Sonntag war die erste Musikveranstaltung seit der Suspension des Spielbetriebes. Ihre Bedeutung darf hoch eingeschätzt werden: So vieles kam hier zum Ausdruck – Musikalisches, Menschliches, ja vielleicht gar Politisches –, dass man schier gar nicht weiß, womit beginnen.
Besondere Atmosphäre
Von „Lebenszeichen“ spricht die das Konzert ankündigende Pressemitteilung des Hauses. In der Tat, gerade in der schmerzlichen Stille der Abwesenheit wurde und wird ja gerade mit großer Intensität bewusst, wie vielfältig und farbenfroh, wie dicht und anspruchsvoll die (selbstredend nicht nur musikalische) Bandbreite des Stadttheaters ist, wenn seine Vorstellungen in längst lieb gewonnenen Bahnen und im gewohnten Rhythmus einen Teil der Klanglandschaft dieser Stadt bilden. Lebenszeichen heißt mindestens zweierlei. Da ist zum einen das Signal, dass Kultur, dass Musizieren von so großer Kraft und Vitalität ist, dass sie niemals ganz zum Erliegen kommen, auch wenn die Umstände, wenn historische Entwicklungen, wenn nackte Notwendigkeit ihre Entfaltung einschränken. Der kleinste Spalt in der Armierung der Bestimmungen reicht, sofort wieder Knospen auszutreiben und trotzig – oder natürlich auch anmutig – den Kopf zu zeigen.
Lebenszeichen heißt aber auch appellativ: Wir brauchen Unterstützung und Solidarität, vergesst uns nicht! Künstler und ihr Publikum bilden eine unauflösbare Einheit; Kunst und Musik können ohne ihr Auditorium nicht existieren. Jeder der Anwesenden im Konzert an diesem Vormittag hat das gemerkt. Die Enge der Verbundenheit wurde in der besonderen Atmosphäre des Foyers mit seiner hellen und gleichermaßen luftigen wie intimen Anmutung buchstäblich greifbar. Zugleich merkte man auch eine Art Fremdeln – zu lange war man einander nicht begegnet, musste mit der Situation erst wieder warm werden. Selbst die Musiker, ausnahmslos auftritts- und bühnenerfahrene Vollprofis, wirkten auf entwaffnende Weise beinahe ungelenk (natürlich nicht auf ihren Instrumenten), wo die Dramaturgie der Verbeugung, wo der Abgang Routine verlangt. Und das Publikum, aufs Äußerste in der Zahl reduziert (gerade einmal 25 Karten wurden offeriert), war zuerst wie befangen – dann aber endlich, mit dem ersten erlösenden „Bravo“ nach Harald Genzmers Sonatine für zwei Violinen (Vera Krauss und Dimitrios Papanikolau) ging man mit, nahm Kontakt auf, vor allem durch anhaltenden, bestimmt begeisterten, aber auch ermutigenden Beifall.
Dass sich mit dem Lebenszeichen etwas originär Politisches ebenfalls Ausdruck verschafft, dürfte nicht weit hergeholt sein. Dieses wertvolle Kulturgut, das sich da sommerlich zu Wort meldete, kostet Geld. Es muss sich – und zwar gerade nicht über einen Tauschwert, sondern über seinen gesellschaftlichen und ästhetischen Wert – stets neu legitimieren. Und das geht nur durch Präsenz. Präsenz hieße in diesem Fall indes mehr, als nur einfach noch, wie auch immer, vorhanden zu sein. Präsenz heißt die lebendige Konzerterfahrung, die allein die fundamentale Bedeutung von Kunst buchstäblich vor Augen und Ohren führt. Unsere Gesellschaft braucht Kunst und Kultur nicht weniger als Ökonomie und Industrie. Und – dies muss vielleicht einmal angesichts vieler leichtfertig nachgeredeter Formulierungen in letzter Zeit betont werden – sie braucht dies als kritisches, im Zweifel sogar subversives Korrektiv zu dem, was gemeinhin „System“ genannt wird. In diesem Sinne ist Kunst das Gegenteil von „systemrelevant“. Bei Kunst und Musik geht es nicht um „Funktionieren“ – es geht vielmehr um Humanität, Würde und Autonomie.
Endlich wieder spielen
Wer hätte das gedacht, auch dies mag also bei dem so erfrischend leichten Programm mitgeschwungen haben. Den Musikern ging es erkennbar allerdings einfach auch darum, endlich wieder spielen zu können. Und das hat schlicht Vergnügen bereitet. Das Programm hatte eine schöne Dramaturgie, die von Barockmusik mit der D-Dur-Flötensonate von Carl Heinrich Graun (Kirsten Mehring, Flöte, und Wolfgang Wels, Klavier) und einer Chaconne für zwei Geigen von Aubert (Krauss und Papanikolau) bis zu einer teils jazzig-fetzigen, teils folkloristischen, teils impressionistischen Variationenfolge über ein bulgarisches Lied von Alexander Vladigerov von 1955 reichte. Damit setzte Pianist Evgeni Ganev den fast sinfonisch tönenden Schlusspunkt. Zuvor begleitete er den Geiger Ivan Krastev bei Mozarts G-Dur-Sonate KV 301 und bei Schuberts Sonatine in D-Dur.
Zum Glück gibt es am kommenden Sonntag ein weiteres Kammerkonzert – die Musik im Stadttheater lebt!
Karsten Mackensen, 16.06.2020, Gießener Anzeiger