Musikalische Details präzise auf dem Schirm: Orchester des Hessischen Rundfunks mit zwei jungen, zu recht hochgelobten, Künstlern zu Gast im Stadttheater
Beim zweiten Sinfoniekonzert der Saison gastierte am Samstagabend das Orchester des Hessischen Rundfunks im Gießener Stadttheater. Zu Recht kann man an diesen festen Programmpunkt in jeder Spielzeit sehr hohe Erwartungen stellen, und auch dieses Mal wurde man nicht enttäuscht.
Den Abend gestalteten zwei junge Künstler, beide bereits auf vorderen Rängen des internationalen Musikbetriebs angelangt, und doch zugleich noch am Anfang äußerst vielversprechender Werdegänge. Am Pult stand der gerade einmal 23 Jahre alte Brite Ben Gernon – seit dieser Spielzeit ist er Principal Guest Conductor des BBC Philharmonic Orchestra in London. Solist in Beethovens erstem Klavierkonzert op. 15 war der Schweizer Louis Schwizgebel, Jahrgang 1987, für seine Interpretationen gefeiert und ausgezeichnet unter anderem als „BBC New Generation Artist“.
Man konnte das gut nachvollziehen: Nach kurzer Gewöhnungsphase (der Flügel im Saal des Stadttheaters hat schon eine überprägnante Helligkeit, die sich auf Anhieb nicht besonders gut mit dem fast spröden Orchesterklang mischte) zeigte Schwizgebel seine Kunst in der Entfaltung einer quicklebendigen Folge von mal anmutigen, mal spitzbübischen, mal esoterisch-zarten Charakteren, die ihm hier leicht, da sämig aus der Hand flossen. Da gab es zauberhaft verhangene pianissimo-Passagen, schon im ersten Satz, aber vor allem dann im zweiten, der die Grenzen des Klangs bis zur Atemlosigkeit auskostete. Das Witzige und Verspielte beherrschte er auch, wenn er etwa gegen Ende des zweiten Satzes triolische Spieluhr-Mechanik mit vorsichtigem rubato gegen die Lyrik des Themas setzte. Ausgelassen, aber mit genauester Kontrolle und punktgenauer Abfederung noch jeder Skala gestalteten sich die vielgestaltigen Couplets des abschließenden Rondos.
Gernon stellte seine ausgeprägte Fähigkeit zur Formung dichter musikalischer Erzählungen mit den beiden weiteren Werken des Abends unter Beweis, nämlich, eröffnend, mit Anna Clynes „This Midnight Hour“ von 2015, und mit Antonín Dvoráks achter Sinfonie, uraufgeführt 1890. So unvergleichbar sind diese Stücke nämlich nicht, wie ihr Entstehungsdatum suggerieren könnte. Mit den jeweiligen Mitteln ihrer Zeit sind beide hoch illustrativ, im Gestus erzählerisch, ja dramatisch. Anna Clyne – geboren 1980 in London, derzeit hoch im Kurs und als Composer in residence für verschiedene sehr renommierte Orchester gebucht – wählte als Grundlage für ihre Komposition zwei Gedichte, ein sehr kurzes, surrealistisch anmutendes, des Spaniers Juan Ramón Jiménez und das melancholisch-düstere „Abendeinklang“ von Charles Baudelaire.
Die nur etwa zwölfminütige Komposition setzt in einer Art Genrecollage eine Reihe von Imaginationen um, die aus den Gedichten aufsteigen mögen. So vielschichtig ist das Ganze aber dann nicht, die Folge von Bewegungen – rhythmisch bei Strawinskij und Mussorgskij abgelauscht – und Intonationen vom leicht verfremdeten Walzer bis zur Fantasyfilm-Pastorale bleibt arg unterkomplex. Gernons Interpretation sah auch immerhin Ironie vor, sodass vielleicht offenbleiben muss, ob Clyne den neotonalen Eso-Kitsch insbesondere des Schlusses wirklich ernst gemeint hat. Ehrlich gesagt allerdings – spätestens beim zweiten Hören ist diese Musik so verbraucht wie ein recycelter Kaugummi.
Dvoráks Sinfonie gelang dem Orchester als große, packende Narration von vitaler Plastizität. Gernon, immer wieder auf den Taktstock verzichtend, und das nicht nur in den gesanglichen Abschnitten, ist kein Mann der großen Schlaggesten – aber er ist ein Geschichtenerzähler erster Güte. So klar wird die Abwendung von Johannes Brahms, die der Komponist mit diesem Werk endgültig vollzogen hat, selten. Gernon brachte jede einzelne Episode in immer wieder neuen Tonfällen zum Leuchten, ohne dass ihm dabei die Gesamtform aus dem Blick geriet. So wird Sinfonie zum Theater. Die musikalischen Details – auch der Nebenstimmen – hatte Gernon dabei präzise auf dem Schirm (wunderbar etwa, wie er die nachschlagenden tiefen Blechbläser am Höhepunkt des ersten Satzes linkshändig regelrecht vor sich herschob). Was für wunderbare Bilder er da zauberte: eine regelrechte Puppenstube mit herabfallendem Puderzuckerschnee im langsamen Satz, quirlig-tänzerische Eleganz ohne jede Vordergründigkeit im dritten, und dann schließlich die ganz große Bühne des letzten Satzes. Das ist tatsächlich im besten Wortsinne großes Kino.
Karsten Mackensen, 23.09.2019, Gießener Anzeiger