Theater landauf, landab spielen Daniel Kehlmanns Erfolgsroman "Tyll". Das Stadttheater Gießen ist das zweite Haus der Liste. Mario Portmanns Version des Kehlmann-Stoffes erweist sich als klug inszenierter, aber mit mehr als dreieinhalb Stunden durchaus auch anstrengender Ritt durch die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges.
Bühnen- und Kostümbildner beschweren sich immer mal wieder, dass ihre Arbeit zu wenig gewürdigt wird. Bei "Tyll" im Stadttheater darf das auf keinen Fall sein, denn was Katharina Sendfeld (Kostüme) und Jochen Diederichs (Bühne) zaubern, ist beeindruckend. Während sie im Bekleidungsfundus der Geschichte aus dem Vollen schöpft, setzt er auf Minimalismus. Im nahezu leeren, tiefschwarzen Theaterraum zeigt Diederichs mit den Mitteln der Theatermaschinerie die Grausamkeit des Dreißigjährigen Krieges, in den Autor Daniel Kehlmann mit "Tyll" den eigentlich mittelalterlichen Narren Till Eulenspiegel hineinversetzt - Donnerbleche, Nebelschwaden, ein variables Gestell aus tischartigen Elementen, Auf- und Abfahrten aus dem Bühnenboden - all das schafft faszinierende Bilder.
Auch Katharina Sendfelds Kostüme sind Hingucker. Sackartige Lumpen für Tylls Müllersfamilie, disney-bunte Kostüme beim Winterkönigspärchen, lächerlich-pludrige Gewänder mit Halskrause, am Ende gar Glitzeroutfits für Techno-Tänzer und bonbonfarbene Anzüge für die Botschafter - nicht alles macht auf den ersten Blick Sinn. Tiago Manquinho hat in "homöopathischen" Dosen die Bewegungen der Schauspieler raffiniert choreografiert, Hannes Kühns Musik liefert die passende Lautmalerei.
Tyll-Figur als roter Faden
Auch Regisseur Mario Portmann schöpft aus dem Vollen. Dass es ihm schwergefallen ist, die fast 500-seitige, dialogarme Romanvorlage für die Bühne zusammenzustreichen, ist deutlich zu spüren. Weitere Streichungen - etwa in der Hinrichtungsszene von Tylls Vater Claus oder die Rückschau auf den Mord von Tyll und seiner Gefährtin Nele am Gaukler Primin - wären aber drin gewesen. Und hätten die im Programmheft verschwiegene Aufführungsdauer erträglicher gemacht.
Dass allerdings die Reihen im Premierenpublikum nach der Pause erheblich gelichtet waren, ist nur bedingt nachvollziehbar. Denn Portmann gelingt es, die in den Zeiten hin und her springende Vorlage und ihr illustres Personal und die aus Fakten und Fiktion gestrickte Geschichte plausibel und - zumindest im ersten Teil - sehr kurzweilig zu präsentieren. In unterschiedlichen Dialekten plappernde Protagonisten, ein Zebra im Schlachtengetümmel (hier gehen Portmann "die Gäule durch") oder kurze Märchen- oder Filmzitate - es gibt viel zu entdecken. Die Erkenntnis, dass das Grauen des Krieges noch nicht lange her ist und ähnliches auch uns in Zeiten, in denen Polit-Clowns regieren, geschehen könnte, bleibt bei dem Spektakel aber nicht auf der Strecke.
Titelfigur Tyll ist zwar Namensgeber des Romans, aber eigentlich eher eine Randfigur. Er ist beim sehr körperbetont spielenden David Moorbach in besten Händen. Vom verpeilt-trotteligen Müllerssohn mit Augsburger-Puppenkiste-Bewegungen und traumatischem Erlebnis nackt im Wald verwandelt er sich zum mephistophelischen Spötter mit Totenkopfmaskierung, der den Mächtigen furchtlos Paroli bietet. Er will niemals sterben, will frei sein - und zahlt dafür den hohen Preis der Einsamkeit. Mit roter Weste und Hose ist er der rote Faden, der die Zuschauer durch die Geschichte führt. An seiner Seite ist seine naive Gefährtin Nele (von Esra Schreier mit Verve verkörpert).
Ein ganzes Arsenal an Figuren absolvieren die anderen Schauspieler: Anne-Elise Minetti hat etwa als wortgewandte und titel- wie theaterhungrige Winterkönigin Liz ihren großen Auftritt. Magnus Pflüger überzeugt unter anderem als trotteliger Winterkönig und lächerlicher Graf Wolkenstein. Roman Kurtz ist als durchtriebener Gaukler Pirmin ebenso glaubwürdig wie als löwenstarker Schwedenkönig oder fanatischer Jesuit. Carolin Weber macht als sich geißelnder Abt das Grauen des Krieges drastisch anschaulich und Tom Wild kann als Freigeist Claus, Gelehrter Olearius oder Botschafter Lamberg Akzente setzen.
Karola Schepp, 02.09.2019, Gießener Allgemeine Zeitung