„Jagen“von Choreografin Olga Labovkina entfesselt bei Premiere im taT einen wahren Ausdruckssturm
Einen wahren Ausdruckssturm entfesselt die Choreografin Olga Labovkina in ihrem Stück „Jagen“. In der ausverkauften Premiere im taT verfolgten die Zuschauer gebannt die Vereinigung von Tanz, Bild und Musik in selten gesehener Vollkommenheit und körperlich spürbarer Wucht. Die Mitglieder der Tanzcompagnie bewiesen dabei mit einer Spitzenleistung ihre herausragende Kompetenz und bedingungslose Hingabe zur Produktion.
Es geht im Dunklen los. Ein Tänzer tritt aus einer Tür und rast sogleich wieder zurück, ein anderer möchte anscheinend hinein, später kommen aus einer Luke die restlichen Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne, noch ist alles düster beleuchtet (Bühne und Kostüme Katharina Andes). Alles Geschehen ist erfüllt von fiebriger Hektik, tiefgreifender Unruhe, es geht hin und her; man kann sich verdichtete Aspekte von Flucht und Vertreibung gut vorstellen. So beginnt der neue Tanzabend von Choreografin Olga Labovkina.
Schon zu Anfang bemerkt man die komplexe, sehr dramatische und unerhört vielfältig gestaltete Musik, die man besser Soundtrack nennt, weil so viele wirksame Elemente eingearbeitet sind wie im Film, etwa gesampelte Pingpongballgeräusche als paradoxe Aspekte. Sie kommen höchst wirksam von oben, ganz unmittelbar. Schnell entwickelt sich der Klang zum unterstützend erzählerischen Element, ohne jedoch zu dominieren. Diese Wirkung nimmt im Verlauf noch zu.
Überdies bemerkt man die Vielfalt der getanzten Figuren, die zu zahlreichen sehr wirksamen Bildern kulminieren, die manchmal vor gespeicherter Energie fast zu platzen scheinen. Hierbei wiederum fallen sämtlich Caitlin-Rae Crook, Maria Adriana Dornio, Marine Henry, Jeremy Curnier, Sven Krautwurst und Floriado Komino auf, die einmal mehr mit exzellenter expressiver Kraft ihre Aufgaben als Darsteller begreifen. Und dann erkennt man Labovkinas Arbeit. Sie macht Tanztheater über menschliche Krisen und zwielichtige Gestalten: Inspiriert von Arthur Millers berühmtem Drama „Die Hexenjagd“ setzt sich die weißrussische Choreografin assoziativ mit den Motiven des Verfolgens und Flüchtens auseinander.
Das ist in erfrischender Weise vielseitig, ungewohnt, wenngleich nicht experimentell, vielmehr ausdrucksstark und enorm detailliert, setzt mimische Elemente ein – die faszinierend präzise umgesetzt werden und das Ganze zu einem allgemein menschlich zu verstehenden Phänomen machen: Den Figuren stehen zuweilen Angst und Schrecken ins Gesicht geschrieben, teilweise scheinen sie bereits seelisch gestört. Anrührend sind die Momente, in denen sich die Figuren schutzsuchend aneinander klammern, sich gegenseitig festhalten. Natürlich findet auch das Gegenteil statt, man erlebt Menschen in Ausnahmesituationen.
Immer wieder finden sich Bilder, die eine geradezu gemäldehafte Qualität erreichen, hier sind offenkundig Vorbilder aus anderen Gebieten verwendet worden, und zwar verblüffend sinnfällig. Labovkina überschreitet auch andere Grenzen, wenn sie die Tänzer mit zwei übergroßen, steifen Mänteln, die irgendwie magischen Chic besitzen, schlagartig andere Konturen annehmen lässt, und die Tänzer sie nicht als Kleidung verwenden, sondern als Minikulisse. Die lässt zwei Körper zu einem werden, zu Sinnbildern der extremen seelischen Veränderungen bis hin zur Unkenntlichkeit, die Flucht und Vertreibung nach sich ziehen können. Immer wieder durchstreifen düstere Gestalten die Szenen, die offenkundig nichts Gutes im Schilde führen, die Figuren flüchten, finden wieder zu einem Gemeinschaftsbild zusammen. Bestechend ist dabei der gestische und mimische Detailreichtum, der die Aufmerksamkeit unaufhörlich bindet, kein Nachlassen der Konzentration nahelegt. Flucht und Vertreibung, Bedrohung, Verletzung und Schutzsuche – so authentisch und vielschichtig wie in „Jagen“ ist das selten dargestellt worden.
Heiner Schultz, Gießener Anzeiger, 02.12.2019