Tarek Assams Tanzabend „Don Juan – Die Illusion des Ewigen“ erzählt beeindruckend von Lust und Leidenschaft
Don Juan ist eine Figur von gestern. Oder eher noch von vorgestern. Was nicht heißt, das sich diesem jahrhundertealten Archetypus des skrupellosen Verführers in Zeiten von #MeToo keine interessanten Facetten mehr abgewinnen lassen. Im neuen Tanzabend von Gießens Ballettdirektor Tarek Assam zeigt der berüchtigte Frauenheld durchaus ambivalente Seiten, bevor er schließlich seinem vorgezeichneten Schicksal entgegengeht. Der in dieser Spielzeit zum Gießener Ensemble gestoßene Brite Jeremy Curnier verleiht dieser Titelfigur einen beeindruckend komplexen Ausdruck. Und auch sonst hat „Don Juan – Die Illusion des Ewigen“ eine ganze Menge spannender An- und Einsichten zu bieten. Am Samstagabend feierte das Stück seine Uraufführung auf der großen Bühne des Gießener Stadttheaters. Es wurde vom Publikum begeistert aufgenommen.
Bevor Don Juan sein übles Spiel mit den Frauen treibt, blicken Assam und sein Bühnenbildner Lukas Noll aber erst einmal ganz, ganz weit zurück in die Vergangenheit. Ein riesiger Nachbau der vor rund 27 000 Jahren geformten und vor rund 100 Jahren aus dem österreichischen Boden gegrabenen Venus von Willendorf beherrscht den Bühnenhintergrund. Diese weibliche Figur setzt einen ersten markanten Kontrapunkt zur Welt der Männer, wie sie der Titelheld verkörpert. Über sie klettern die Tänzer nach und nach auf die Bühne, um eine Gemeinschaft entstehen zu lassen, sich zu vereinen, zu trennen und neu zusammenzufinden. Fortan wird diese üppige Venus wie eine mächtige matriarchalische Ordnungsinstanz immer mal ein (per Kamera projiziertes) Auge auf das Bühnengeschehen werfen – oder auch gleich ein halbes Dutzend.
Dazu spielt das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Kapellmeister Martin Spahr ausschließlich zeitgenössische Musik. Dunkle, sphärische Werke von Komponisten wie Charles Ives, Bernd Alois Zimmermann, John Psathas sowie vielen anderen, in denen es ziept und fiept und ächzt und krächzt. Bisweilen bleibt es aber auch sekundenlang ganz still, bevor ein einzelnes Horn schmettert oder voluminöse Streicher die Geschichte mit markigem Ton wieder nach vorne treiben. All das passt ausgezeichnet zu den intensiven Bildern, die zunächst weit weg sind von der Erzählung des Verführers, wie wir ihn etwa von Molière oder Mozart kennen. Viel nackte Haut wird auf der Bühne gezeigt und die Männer lassen beim Buhlen die Hosen einmal sogar im doppelten Sinne herunter. Ein Zeichen, das Begierde und Schutzlosigkeit gleichermaßen markiert.
Dann tritt mehr und mehr Tänzer Jeremy Curnier als düsterer Titelheld in den Mittelpunkt des Geschehens. Oberkörperfrei, mit über die Schultern geschnürten Lederriemen und einer zum Teil fellbesetzten Hose übernimmt er die Bühne wie ein gefährliches, instinktgetriebenes Tier auf der Suche nach seiner Beute. Die findet er etwa in wunderbar fließenden Duetten mit Tanzpartnerinnen wie Julie de Meulemeester oder Caitlin-Rae Crook, die nun ihrerseits nahezu vollständig nackt und fast schon waidwund um die Zuneigung des Mannes werben.
Dazwischen tun sich aber auch immer wieder andere Paarkonstellationen auf. Nicht alleine aber zwischen Mann und Frau – wir sind schließlich im 21. Jahrhundert. Nahezu artistisch und dennoch stets ästhetisch fließend etwa wirkt es, wenn Michael D’Ambrosio und Patrick Cabrera Touman sich im Duett körperlich näherkommen und dabei scheinbar jeden einzelnen Muskel für ihre kraftraubenden Figuren einzusetzen scheinen.
So wird das Motiv des von seiner Lebensgier getriebenen Don Juan immer wieder gebrochen, durchbrochen und nur lose angedeutet. Hinzu kommt mit Magdalena Stoyanova im sich vom Ensemble unterscheidenden schwarzen Einteiler eine Art Catwoman, die die Handlung immer wieder wie eine objektivierende Erzählfigur einordnet. Sowie kleine, nackte Plastikpuppen, die einzelne Charaktere spiegeln und verdoppeln sollen. Eine inszenatorische Idee, die sich allerdings nicht recht erschließt, weil diese Objekte keine Präsenz entwickeln und nur durch die gefilmte Vergrößerung auf zwischenzeitlich ins Bühnengeschehen integrierten Leinwänden eine Wirkung erzielen.
Dieser kleine Makel nimmt dem knapp zweistündigen Abend aber nichts von seiner Wucht. Don Juan, der zuvor sogar sensible, reflexive Momente erkennen lässt, entpuppt sich am Ende doch als der Mann ohne Gewissen, wie man ihn aus der Legende kennt. Seine Opfer bedecken den Bühnenboden, während er selbst aus dem Hintergrund regungslos auf das Ergebnis seiner ausgelebten Begierden starrt. Noch ist der Kampf gegen diese zerstörerische Sorte Mann nicht gewonnen.
Björn Gauges, 10.02.2020, Gießener Anzeiger