Die große Freiheit des Solisten - Gießener Anzeiger
15.06.2020

Martin Gärtner sorgt als „Antigone“ sowie gesamtes weiteres Personal der antiken Tragödie für den Neustart des Stadttheaters

Der nach drei Monaten Zwangspause heiß ersehnte Neustart am Stadttheater Gießen bietet den glücklichen Besitzern einer der raren Eintrittskarten gleich eine ganze Menge an Erkenntnissen. Nach Martin Gärtners 90-minütigem Solo „Antigone“ im kleinen taT am Rathaus lauten die Wichtigsten: Der Bühnenzauber stellt sich sofort wieder ein, sobald das Saallicht erlischt und die Scheinwerfer eine fiktionale Theaterwelt beleuchten. Es ergeben sich ästhetische Lösungen, die es erlauben, alle leidigen Corona-Abstandsregelungen (für kurze Zeit) zu vergessen, wenn ein Darsteller wie Gärtner alle Rollen im Alleingang mit Leben zu füllen versteht. Und schließlich: Antike Tragödien sind zeitlos aktuell.

All das konnten sich die exakt 15 Zuschauer von „Antigone“ erschließen, die am Samstagabend als erste seit Mitte März und dem Shutdown wieder in den Genuss einer Stadttheater-Produktion gekommen sind. Unter strengen Sicherheitsbestimmungen, versteht sich: Draußen mussten die Hände desinfiziert werden, ein Mundschutz war obligatorisch, dann wurden die Besucher nach einer kurzen Einweisung vom Foyer aus in Kleingruppen zu ihren einzeln im Saal verteilten Plätzen geführt, wo sie, immerhin, den Mundschutz für die Länge der Aufführung wieder abnehmen durften.

Vorspiel am Eingang

Es war das ganz spezielle Vorspiel zur antiken Tragödie des Griechen Sophokles, die Gärtner in der Bearbeitung des Musikkabarettisten Bodo Wartke auf die Bühne brachte. Und damit das Nachfolgestück von dessen „Ödipus“-Vorlage, das gleich 86 Mal in Gießen aufgeführt wurde. Regie führt diesmal wie zuvor Oliver Meyer-Ellendt.

Multiinstrumentalist und Musikkabarettist Gärtner, der 1997 den Kinder- und Jugendchor am Stadttheater gegründet hat, erlaubt sich den Spaß, dieses „Ödipus“-Finale zu Beginn des neuen Stücks noch einmal kurz in Erinnerung zu rufen. Die letzten Textzeilen spricht er hinter einem Vorhang mit dem Rücken zum Saal an ein zweites, unsichtbares, aber ebenso spärliches Publikum gerichtet. „Scheiß-Corona!“. Dann tritt er ab - und durch einen Vorhang in seine Bühnen-Garderobe, wo er eine neue Textvorlage aus der Post fischt und sich lesend umgehend der Interpretation aller „Antigone“-Figuren widmet. Da ist also Herrscher Kreon, der seinen beiden Neffen den Thron zu gleichen Teilen übergeben will, im jährlichen Wechsel. Doch die zerstrittenen Brüder wollen die Macht nicht teilen und bringen sich irgendwann gegenseitig um. Während der eine als legitimierter Herrscher betrauert werden darf, wird die Leiche des anderen auf Befehl Kreons öffentlich geschändet, weil er die staatliche Ordnung angegriffen hat. Und da kommt beider Schwester Antigone ins düstere Spiel: das „Ideal hingebungsvoller Liebe und weiblichen Heldenmuts“, wie es zu Beginn des Stückes heißt.

Dem vielseitigen Martin Gärtner gelingt es, dem gesamten Personal dieser berühmten Tragödie dialogisch Leben einzuhauchen. Dazu verteilt er unterschiedliche Dialekte und Akzente, von Kölsch bis Hessisch, vom Lispeln Kreons bis zum Zungenschlag eines arg bedächtigen Schweizer Gardesoldaten. Überhaupt werden die Temperamente hier ganz unterschiedlich verteilt, was es dem Publikum leicht macht, die einzelnen Figuren voneinander zu unterscheiden. Hinzu kommen jede Menge eingestreuter Gags und Sketche, die diesem Bühnensolo viel Lockerheit verleihen und gleichzeitig unterhaltsam die antike Sagenwelt einführen: zum Orakel von Delphi, dem Kampf mit dem Minotaurus oder dem Faden der Ariadne.

Und dann ist da noch die Musik. Der Multiinstrumentalist spielt Mundharmonika, Ukulele und Klavier, hat den Blues, deutet den griechischen Sirtaki an und liefert sich irgendwann sogar selbst eine gekonnte Rap-Battle. So dampft er mit ungeheurem Tempo, enormer Vielseitigkeit und originellen inszenatorischen Ideen durch die antike Vorlage. Ohne dabei den Grundgehalt des Stücks ins Lächerliche zu ziehen. Ganz im Gegenteil: Beim großen Finale zeigt sich: Die aufrechte Heldin Antigone verteidigt vehement das Recht des Einzelnen gegen den Staat. Eine wahrlich brisante Frage, über die sich in diesen besonderen Tagen noch einmal ganz neu diskutieren ließe.


Björn Gauges, 15.06.2020, Gießener Anzeiger