Ein Alptraum ohne Schlaf - Gießener Anzeiger
18.09.2020

Theaterperformance der Gruppe Skart widmet sich auf der taT-Studiobühne einem vermeintlich besonders deutschen Gefühl

Die häufigsten deutschen Ängste im Jahr 2020: Trump und seine Folgen, steigende Lebenshaltungskosten, Einbruch der Wirtschaft – in dieser Reihenfolge. Die Angst, an Corona zu erkranken, liegt abgeschlagen auf Platz 17, so trug es eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Langzeitstudie zusammen. Alles eher ein Ausdruck von Reflexion statt von Affekten, ließe sich da folgern. Das „House of German Angst“ hingegen bietet keine Räume für solch konkrete Ängste. Stattdessen versucht das Gießener Theaterkollektiv Skart, mit seiner neuen Produktion zum existenziellen Kern dieses Gefühls durchzudringen. Am Donnerstagabend feierte die assoziative Performance ihre Uraufführung auf der taT-Studiobühne, die Darstellern wie Zuschauern einiges abverlangte.

Die Ängste, die hier verhandelt werden, haben tatsächlich nichts mit Zeitphänomenen wie einem irrlichternden US-Präsidenten, einem sich weltweit verbreitenden Virus oder auch nur einem in den englischen Sprachgebrauch eingegangenen deutschen Phänomen zu tun. Was die beiden Theatermacher Mark Schröppel und Philipp Karau interessiert, sind vielmehr die Tiefenschichten der allgemein menschlichen Psyche, die sie über lose aneinandergereihte Bilder, Klänge und Texte freilegen. Los geht das mit einer Situation, die entfernt an Kafkas in einen Käfer verwandelten Gregor Samsa erinnert. Ein Erzähler (Kind?) liegt nachts im Bett und lauscht, wie zwei Menschen (Eltern?) die Treppen hinaufsteigen und sich dabei langsam, leise und vorsichtig immer weiter seinem Zimmer nähern. Paula Schrötter spricht diesen Monolog, der detailliert und wie in Zeitlupe physische Körperreaktionen beschreibt, die durch ein aufsteigendes Bedrohtheitsgefühl ausgelöst werden. Dabei steckt die Schauspielerin in einem fleischfarbenen Ganzkörperanzug, der nicht nur ihr Gesicht zur Fratze macht, sondern auch die Konturen ihrer Gestalt ins Irreale verzerrt.

Ganz ähnlich die Haut, in der Pascal Thomas steckt. Auch hier ein Hinweis auf die Nacktheit und Verletzlichkeit des Fleisches, während der Schauspieler von der sich steigernden Furcht eines bedrohlichen Verfolgers erzählt. Auf der zunächst weitgehend leeren Bühne wirken die beiden Darsteller in ihren grotesken Aufmachungen dabei wie einem Kinoschocker entsprungen. So erzählen sie auf mittelbare Weise von einem das Gehirn beherrschenden Gefühl, das entsteht, wenn man „aus einem Alptraum erwacht und feststellt, dass man gar nicht geschlafen hat“, wie Thomas feststellt.

Doch die Skart-Autoren ziehen die Schraube im Laufe der 60-minütigen Spielzeit sogar noch weiter an. Mark Schröppel selbst steckt über die gesamte Stunde in einer Kiste verborgen fest, die nur sein grotesk verzerrtes Gesicht erkennen lässt. Ein Bild, das an die weiße Maske aus der Horrorfilmreihe „Scream“ erinnert. Und Ossian Hain, von einer Art Fell umhüllt wie ein hilflos tapsiges Tier, lässt irgendwann eine Lawine schwarzer Kugeln aus einer Glasvitrine in den Bühnenraum kippen, die er anschließend mit einem mächtigen Gebläse zwischen die Publikumsbeine pustet. Emotionen, die in harte, dunkle Bilder übersetzt werden. Ossian präzisiert anschließend in einem weiteren Monolog, was das von solcherlei Symbolik umkreiste Gefühl im Kern ausmacht: „Wir haben Angst davor, uns dem Fremden auszusetzen.“ Womit sich natürlich doch noch ein Bogen zu aktuellen Dramen aller Art schlagen ließe.

Doch Konkretes bleibt in dieser Performance weitgehend außen vor. Erst kurz vor Ende des schaurigen Spiels lassen die Theatermacher eine Toncollage von Band abspielen, in denen verschiedene Menschen wie ein antiker Chor über ihre eigenen Ängste Auskunft geben. Ansonsten setzt dieses neue Skart-Projekt auf verschiedene mehr oder weniger schlüssige Versatzstücke, die Theatergänger schon aus früheren Produktionen kennen. Dunkle elektronische Soundschnipsel, Folien, mit denen Gesichter und Körper entstellt werden, stummes Körperspiel. Eins der eindrücklichsten dieser Bilder gelingt ganz am Ende: Da befreit sich die unter einem riesigen (Angst-)Hasenkopf von den Füßen bis zum Hals mit Gaffer-Tape an die Bühnenrückseite festgeklebte Janna Pinsker unter allergrößten Anstrengungen minutenlang von dem Material, das sie dort so lange festhielt. Wohl lange nicht mehr ist ein Darsteller im Stadttheater körperlich so gefordert gewesen. Doch immerhin: Das fesselnde Band, die fesselnde Bedrohung kann sie schließlich hinter sich lassen.

Übrigens: Eine Angst ganz anderer Art müssen Besucher vor der Idee haben, Theateraufführungen auch künftig auf lehnenlosen Sitzhockern beiwohnen zu müssen. Mehr als eine Stunde möchte man wahrlich nicht darauf verbringen. Zumindest diese Furcht ließe sich dem Publikum leicht nehmen. Indem es künftig wieder auf Stühlen Platz nehmen darf.


Björn Gauges, 18.09.2020, Gießener Anzeiger