Magische Szenen voller Energie - Gießener Anzeiger
07.09.2020

Stadttheater Gießen bietet mit Verdis „Macbeth“ einen fesselnden Opernabend / Grandiose Leistung der Orchestermusiker

Das Ende lässt auf eine Ablösung der totalitären Schreckensherrschaft eines machtgierigen Tyrannenpaares durch eine Form der rechtlich legitimierten staatlichen Gewalt hoffen – zumindest verzichtet Macduff in der Interpretation von Regisseur Georg Rootering auf die persönliche Rache und überlässt die Aburteilung und Hinrichtung des Macbeth einem Standgericht. Mit Giuseppe Verdis „Macbeth“ eröffnete das Gießener Stadttheater nun die neue Musiktheatersaison und meldete sich zugleich mit voller Energie, mit stimmgewaltiger Oper ohne Wenn und Aber aus der erzwungenen Theaterpause zurück. Natürlich mussten ein paar Dinge beachtet werden. Dazu gleich mehr, aber eines darf man vorweg festhalten: Am Konzept der Inszenierung mussten durch Abstandsregeln oder andere Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit aller Beteiligten keine Abstriche gemacht werden.

Rootering erzählt den bekannten Shakespeare-Stoff über den Königsmörder Macbeth als eine sich fast wie von selbst rasant beschleunigende Spirale der Gewalt, die aus der Gier nach Macht erwächst. Die märchenhaft-mythischen Elemente der Vorlage, also die Hexenszenen, die Visionen und Prophezeiungen, spitzt er zu in Form der personifizierten Präsenz einer die Entscheidungen der Protagonisten lenkenden Instanz, einer Inspiration des Wahnsinns. Im Programmheft wird diese einer Tänzerin anvertraute Rolle – Inga Schneidt verkörpert sie geschmeidig und dämonisch – Hekate genannt, im Sinne einer Göttin der Hexerei und Magie.

Als Anführerin der buchstäblich leichenfressenden Hexen erscheint sie (im prächtigen Kostüm von Lukas Noll) als ein mythologisches Fabelwesen in einer unheimlichen Mischung aus Krähe, Widder und Mensch. Wo Meuchelmord und Machtstreben ausgeheckt werden, ist sie gegenwärtig. Macbeth wird nicht weniger durch sie gelenkt als seine Gattin, die umtriebige Lady Macbeth. Sobald diese Wahnsinnsmacht ihr unheilvolles Werk verrichtet hat, ist sie nicht mehr zu sehen: beim Selbstmord der Lady (als Selbstverbrennung erschütternd in Szene gesetzt), beim Schlussmonolog des Macbeth.

Die Bilder, die Rootering mit Noll für die Bühne entwickelt hat, sind einfach und aussagekräftig. Im Zentrum der Inszenierung steht ein langer Tisch, der sich dynamisch von Opfertisch zu Planungstisch, zu Schlachttisch und Seziertisch – ja sogar einmal zu einer angedeuteten Abendmahlstafel wandelt. Umkreist wird dieser Tisch von einer aufwärtswendelnden, breiten Treppe, geschickt genutzt auch für die Personenführung. Apropos: Wo waren denn nun Aspekte einer Aufführung unter Corona-Bedingungen zu bemerken? Nicht bei der Inszenierung, schon gar nicht beim Gesang. Das ging beim hervorragend disponierten Hauschor los (Einstudierung: Jan Hoffmann und Martin Spahr) und endete bei den Nebenrollen. Klangmächtiger lassen sich die gewaltigen Ensembles, etwa im Finale des ersten Aktes oder beim patriotischen Chor der Vertriebenen, kaum vorstellen. Sängerisch war dieser Abend eine große Freude.

Fehlende Fülle

Verblüffenderweise spielte dabei auch der Umstand eine Rolle, dass das Orchester nicht in voller Besetzung antreten durfte. Gerade einmal für elf Musiker und den Dirigenten wurde das Placet erteilt. Aus der Not machte Generalmusikdirektor Florian Ludwig eine Tugend. Ist Verdis Partitur voll von fantastischen Klangeffekten, nutzte die kleine Besetzung des Arrangements von Arno Waschk besondere Instrumente und Spieltechniken, um eine eigenwillige Klangwelt zu erzeugen. Das passt zu Verdis Musik, wo ohnehin eine Tendenz zum Volkstümlichen vielfach auch ernste Nummern auszeichnet. Italienischer in diesem Sinne konnte Macduffs Klagegesang im vierten Akt kaum klingen, als mit der dezenten Akkordeonbegleitung zu Ewandro Stenzowskis betörend samtenem Tenor. Das Vibraphon verlieh den magischen Szenen eine fantastische Note. Und natürlich war der Gesamtklang transparenter, die Balance für die Sänger leichter herzustellen. Gleichwohl: So überraschend reizvoll diese Variante ist, es fehlt schon der satte Streicherklang, es fehlt Fülle, und trotz der grandiosen Leistung der Orchestermusiker klingt es manchmal unfreiwillig auch ein bisschen komisch.

Grga Peroš gab mit der Rolle eines Macbeth, dem die durch Mord errungene Krone nicht allzu fest auf dem Haupt sitzt, ein großartiges Verdi-Debüt. Als Mitglied des Gießener Ensembles hat man ihn bereits in vielen Partien gehört. Der qualitative Sprung zu dieser ersten ganz großen Rolle aber ist noch einmal unüberhörbar. Souverän und mit großer Sensibilität meisterte er die verängstigten Töne der Visionen, die machtbesessen-pathetischen im Duett mit der Lady und die reuevollen des Schlussmonologs. Ihm zur Seite stand Katrin Kapplusch als Lady. Da hätte man sich in den dramatischen Spitzenlagen etwas weniger Druck gewünscht; das Haus ist ja nicht groß und noch dazu musste niemand über ein großes Orchester hinwegsingen. Auch die tiefe Tessitura einiger Partien, die ja den vielfach dunklen Klangfarben des Orchesters entspricht, lag ihr nur mäßig. Sehr gut besetzt war dagegen mit warmem, vollem Timbre der junge Bassist Matthew Anchel als Banco.

Das war ein fesselnder Opernabend ohne Abstriche, die Besonderheit der Situation war nur an den ausgedünnten Sitzreihen, an den zur Lüftung geöffneten Saaltüren, an der fehlenden Pausenbewirtung zu erkennen – und auch dies war mit Einsetzen der Musik vergessen.


Karsten Mackensen, 07.09.2020, Gießener Anzeiger