Die Welt ist nicht durchsichtig
Wir leben in einer bewegten Zeit. Die Bürgergesellschaft ist zunehmend bereit, sich wieder aktiv
an der Gestaltung politischer Prozesse zu beteiligen. Sie will ökonomische Vorgänge mitgestalten.
Der Ruf nach Transparenz wird für Entscheider unüberhörbar. Folgerichtig wird eine Transparenzgesellschaft
angestrebt, in der gesellschaftlich relevante Entscheidungen unter Beteiligung aller
und für jeden nachvollziehbar gefällt werden sollen. Gewachsen ist das Bedürfnis nach Transparenz
wohl als Antwort auf den Verlust an Vertrauen in Politik, Wirtschaft, Kirchen – oder auch diffus
in „die da oben“. Es stellt eine nachvollziehbare Reaktion dar auf Skandale, Korruptionsfälle, gesellschaftliches
Ungleichgewicht und vieles mehr, was das allgemeine Misstrauen stetig genährt
hat. Nur marginale Beachtung findet in der Diskussion zuweilen jedoch, dass die Forderung vollkommener
Transparenz, den Ruf nach Kontrolle, den Verlust individueller Freiheit und nicht zuletzt
den Verlust des Vertrauens in demokratische Strukturen bedeuten kann.
Was bedeutet aber der Ruf nach Transparenz für künstlerische Prozesse als Teil der gesellschaftlichen
Wirklichkeit? Die Welt ist nicht durchsichtig – unsere vielleicht etwas markig provokante Antwort.
Das Theater – ja, die Kunst an sich – lebt vom Geheimnis, lebt von der Intransparenz. Nicht
auszudenken, wir würden jedes Detail, jeden Gedanken bei der Entstehung eines Bildes, eines
Theaterstücks oder einer Komposition kennen. Wo bliebe da die Unmittelbarkeit des Sehens,
Hörens und Erlebens, wo die emotionale Berührtheit des Betrachters, wenn wir in der ständigen
Gewissheit, dass alles nur Fiktion ist, auf die Kunst schauen, und im steten Bewusstsein, aus welchen
Zusammenhängen was entstanden ist.
Transparenz wäre nicht etwa eine Bereicherung des künstlerischen Schaffens- und Anschauens-
Prozesses, sie würde vielmehr zerstörerisch, kontraproduktiv wirken. Die Kunst wäre leer – durchschaubar,
entzaubert. Sie böte keinen Raum für die Eigenarten, Gedanken und Visionen des
Kunstschaffenden und auch keinen Raum für die sehr individuelle Deutung des Betrachters, der mit
seinen Gedanken, Erfahrungen, mit seiner Biographie seine Seh- und Hörerlebnisse füllt.
Die Welt ist nicht durchsichtig – und schon gar nicht die Kunst. Jedes Verlangen, Transparenz
herzustellen, führt zu Stillstand, Stagnation – nimmt die Spannung und schafft durchschaubare,
kontrollierte Räume, die leer sind – ohne Reiz, ohne Kreativität, ohne Neugier.
Mit unserem Spielplan 2012/13 laden wir Sie ein zu einer anregenden und hoffentlich auch
geheimnisvollen Reise durch Musiktheater, Schauspiel, Tanz und Konzerte, die im Frühsommer
2013 in die Hessischen Theatertage und das Internationale Büchner-Theaterfestival münden
wird. Ihnen werden liebe alte Bekannte dabei genauso begegnen wie einige faszinierende Unbekannte,
die Sie sich mit Ihrer lustvollen Neugier erobern können, ohne dass sie ihr Geheimnis
verlieren werden.
Wir freuen uns über Ihr Vertrauen, das Sie uns, unseren Konzepten und Arbeitsprozessen schenken
und unseren Aufführungen. Wir freuen uns auf Ihre Leidenschaft für das Theater. Und wir freuen
uns auf Sie.
Ihre Cathérine Miville | Intendantin