Peter Handkes »Immer noch Sturm« inszeniert Titus Georgi im Stadttheater in einem Meer aus baumdicken Stangen. Ganze drei Stunden lässt er Handkes Vorfahren darin herumsteigen.
Hinter einem Meer aus quer hängenden, bühnenbreiten Stangen taucht schemenhaft eine Gruppe auf. Ein riesiges beflecktes Laken hängt im Hintergrund. Im Vordergrund steht der Ich-Erzähler, der die sieben Männer und Frauen zu sich lockt. Mühsam kämpfen sie sich durch den Stangenwald und geben dem scheinbar namenlosen Ich in den folgenden drei Stunden Einblick in ihr Leben und die tragödientauglichen Risse, die sich durch ihre Familie ziehen.
Der da unter dem Stücktitel »Immer noch Sturm« seine Ahnen zur eigenen Familiengeschichte befragt, ist das Alter Ego von Autor Peter Handke. In einem traumähnlichen Zustand begegnet er seinen Großeltern, Onkeln und der eigenen, damals noch jungen Mutter. Er entdeckt deren Geschichte als Slowenen im Widerstand gegen die nationalsozialistischen Deutschen und somit auch die eigene Identität als »Wechselbalg« einer slowenischen Mutter und eines Wehrmachtsoldaten. Geschickt vermengt Handke Fiktion und Realität und kreiert so auch ein Stück Weltgeschichte.
Elvis und die Partisanen
»Immer noch Sturm« ist Handkes persönlichstes Stück. 2011 uraufgeführt ist es eine einzigartige Mischung aus Roman und Schauspiel, die aber eigentlich nur in der Bühnenumsetzung verstehbar wird. Regisseur Titus Georgi stellt sich dieser Herausforderung. Jochen G. Hochfeld hat ihm dafür besagtes, einige Varianz ermöglichendes Meer aus Stangen gebaut. Parviz Mir-Ali steuert den atmosphärisch dichten Sound aus Naturgeräuschen und Musik bei. Videoeinspielungen mit Weltkriegsszenen bieten was fürs Auge.
Dem Trio gelingt es, die kunstvolle Sprache Handkes auf der Bühne zu einer nachvollziehbaren Geschichte zu machen. Diese kann in der Kraft der einzelnen Figuren zwar durchaus fesseln, hat aber auch kaum zu ertragende Längen. Ein wenig mehr Konzentration, beherzteres Streichen und vor allem ein Verzicht auf den für den Autor sicher wichtigen, die Zuschauer aber wenig berührenden Exkurs über Slowenien und die jugoslawische Geschichte am Ende der Vorstellung hätten gut getan. Da hört ohnehin kaum noch jemand konzentriert zu.
Zuschauer »wiederbelebt«
Bis zur Pause bleibt das Geschehen auf der Bühne zudem mehr oder weniger wortlastig und statisch, wenngleich sich die Stangen immer mal wieder in leichte Schieflage begeben. Im zweiten Teil fährt Georgi dann plötzlich Pappfiguren auf, lässt seltsame Wesen mit slowenischen Trachtenelementen, Vogelkostüm oder Elvisbühnenoutfit auftreten und auf den nun wildbewegten Stangen schwingt sich der Partisanenonkel auf einem angedeuteten »Anarchie-A« in schwindelnde Höhe. Ein wahrer Sturm ist für einen kurzen Moment über die Bühne gefegt, hinterlässt ein Trümmerfeld und verwandelt sich dann doch im Abgang wieder zum eher lauen Lüftchen. Ein bisschen wirkt das wie der verzweifelte Versuch, mit reichlich Spektakel das ermattete Publikum noch einmal aufzuwecken. Auch dass ein modernes Schlauchboot zwischen den Stangen klemmt, wäre nicht wirklich nötig gewesen, um der Geschichte Aktualität zu verleihen.
Die Schauspieler stemmen an diesem Abend eine enorme Herausforderung. Allen voran Christian Fries, der als Ich-Erzähler auf der Suche nach der eigenen Identität seine Vorfahren befragt und vom schlechten Gewissen wegen seiner Undankbarkeit ihnen gegenüber gepeinigt wird. Tapfer kämpft er sich durch den anspruchsvollen Text, der mal als Klartext daherkommt, dann wieder als gebrabbelte Wortfetzen. Mit Iron-Maiden-T-Shirt und kinnlangen Strähnen hat Fries schon allein optisch viel gemein mit dem Popliteraten Handke. Sein eher schnodderiger Ton pendelt, leider nicht immer leicht akustisch verständlich, zwischen Gedankenwelt, Szenenschilderungen und Dialog mit den Verwandten – immer wieder unterbrochen von »allgemeinen Innehalten«, einer Art Rudelkuscheln der Familie.
Durchhaltevermögen gefragt
Anne-Elise Minetti verkörpert Handkes junge Mutter als sinnenfrohe Frau, die tapfer ihr Kind, gegen alle Anfeindungen verteidigt. Sie erinnert Handkes »Ich« daran, dass seine Vorfahren ihn und sein Leben für immer bestimmen. Thomas Wild ist der seine Gefühle mit plattem Humor und derben Flüchen übertünchende Großvater, Carolin Weber die anfangs versöhnlich gestimmte, dann zunehmend unerbittlich wirkende Großmutter, die sogar die eigenen Kinder zurück in den Krieg schickt, um endlich die Feinde zu besiegen. Lukas Goldbach als Onkel Gregor wandelt sich überzeugend vom harmlosen Obstbauern-Freak zum menschenverachtenden Partisanenkommandanten. Maximilian Schmidt zeigt als Weiberheld Onkel Valentin dessen Faible für alles Westliche und Unverbindliche und mutiert zum schillernden Elvis. Stephan Hirschpointner ist der sich ständig ekelnde Onkel Benjamin, der im Krieg wie sein Bruder Valentin sein Leben verliert. Zu Tode kommt auch Paula Schrötters Ursula, Tante des »Ich«-Erzählers, die anfangs die überzeugte Partisanenkämpferin Snezana ist, am Ende aber desillussioniert von den eigenen Mitstreitern getötet wird.
Karola Schepp, 16.04.2018, Gießener Allgemeine Zeitung