Kálmán: Ein Herbstmanöver Gießen | Stadttheater
Eben noch singt die einsame Dame des Hauses ein melancholisches Lied. Da öffnen sich plötzlich alle Türen, und im Nu füllt Festgesellschaft die Bühne, Champagner fließt in Strömen, und alles dreht sich im Walzertakt. Ja, das ist Operette! Wenn dann noch der Zigeunerprimas hereintritt und seine Geige schluchzen lässt, wissen wir: Das ist Operetten-Ungarn, das Land von Kálmán Imre, seiner liebenswerten Kunst. Und nun kommen auch noch die Husaren, fesch, schneidig! Die Trompete bläst zum Herbstmanöver. Die schlanken k.u.k.-Offiziere lassen sich von den versammelten Weiblichkeiten bewundern. Die Kanonen donnern, die Befehle donnern, die beleidigte Ehre donnert. Wenn es keine brenzligen Missverständnisse gäbe, wäre das Stück schnell aus. So aber dauert’s satte drei Stunden, bis sich die Baronin und der Oberleutnant glücklich finden.
Nein, im Gießener Stadttheater wird bei der leichten Muse nicht gegeizt! Aus der ungarischen und der Wiener Fassung von Kálmáns «Ein Herbstmanöver» sowie mit einigen zusätzlichen Musiknummern zimmerten Regisseur Balász Kovalik und GMD Michael Hofstetter einen umfänglichen, runden Theaterspaß. Kovaliks pfiffig aktualisierter Text (das Original-Libretto stammt von Karl von Bakonyi) gibt dem Dialoganteil zusätzliches Maß. Die Entstehungszeit des Werkes (1908/1909) war Anlass, ein wenig auch in die Tiefe zu loten, Titanic-Katastrophe samt Weltkrieg kassandrisch vorausschauend ins Visier nehmen. Doch diese kleinen Nachdenklichkeiten wurden nicht zu spielverderberischen Bleigewichten, ebensowenig Pulverdampf- und Kriegsgetöse, die sich als ebenso attrappenhaft entpuppten wie die drohende standrechtliche «Strangulierung» des vor lauter Ehrgefühls- und Liebeswirren pflichtvergessenen Haupthelden.
In Gießen kennt man das optimale Rezept der Operetten-Animation. Da wird nicht verklemmt oder verkrampft mit Klischees gehadert, aber auch nicht speckig auf Offiziertskasinolustigkeit spekuliert. Man widmet der Sache, bar jeden Hochmuts, alle erdenkliche Sorgfalt und Liebe, Feinarbeit also. Bis ins Detail. Vor allem von Ausstatter Lukas Noll, der für einige Hauptakteure eine ganze Garderobenkollektion parat hat und mit seiner unermüdlichen Drehbühne einen gediegen noblen Schauplatz schafft, an dem man sich auch im Finale noch nicht müde gesehen hat. Zumal die Bühne fantasievoll belebt wird durch die bei fast jedem Auftritt dekorativ präsenten Tanzdarbietungen, choreografisch smart und mit Tempodruck angerichtet von Leo Mujić. Tänzerisch beschwingt und geradezu beflügelt auch der Chor (Einstudierung: Jan Hoffmann).
Ein großes Aufgebot von Sängern und Schauspielern. Die Inszenierung gönnt sich viel Zeit für die beiden Domestikenfiguren und ihre weltklugen Räsonnements: für den alten Bence, hier Kammerdiener und nicht Großknecht (Rainer Domke), und den eleganten Maître (Gutsverwalter) Kurt (Rainer Hustedt). Die etwas schnippische, am Schluss herzensgute Feldmarschallstochter Treszka war von Marie Seidler auch gesangslich gut charakterisiert. Das «seriöse» Paar hatte natürlich die prächtige Hauptlast der sentimentalen bis schnwungvollen Arien und Duette zu tragen, dankbare Aufgaben für die höhensichere soubrettenhafte, souverän agierende Christiane Boesiger (Baronin Riza von Marbach) und den nicht allzu hell timbrierten, mit substanzreicher Wärme intonierenden Grga Peroš (Oberleutnant von Lörenthy). Im etwas dschungelhaften Gewirk der weiteren militärischen und zivilen Personen kam nicht nur das «gewöhnliche» Nebenpaar zum Zuge, sondern auch eine lieb und freundlich auf die Schippe genommene homosexuelle Konstellation.
Trotz der beträchtlichen atmosphärischen Qualität gehört «Ein Herbstmanöver» nicht zu den wirklichen Erfolgsoperetten Kálmáns wie «Die Csárdásfürstin» oder «Gräfin Marzia». Es fehlen die umwerfenden melodischen Einfälle - weder das stimmungsvolle Zigeunerkolorit noch die Walzerepisoden oder die leichtfüßigen Couplets haben wirkliches Ohrwurmpotenzial. Man kann das Unreißerische, auf einer mittleren Ebene angenehm, geläufig sich Artikulierende der Musik aber ebenso als wohltuend empfinden. Denn in der Gießener Fassung kam unter der Leitung von Michael Hofstetter keinen Augenblick Langeweile auf. Frisch und spritzig klang das Orchester, vielleicht weniger wie Sekt, als vielmehr nach zünftig regionalem Licher Bier.
Hans-Klaus Jungheinrich, Dezember 2017, Opernwelt