Stadttheater Musik, Literatur und faszinierende Bilder: Stück von Heiner Goebbels bei Premiere gefeiert
Ein Mann sitzt, den Rücken zum Publikum gewandt, tief im Bühnenhintergrund an einem Schreibtisch und beschreibt exakt das, was man selbst als Zuschauer von ihm und seiner Umgebung sieht. Die Haltung seiner Hände, die Neigung seines Kopfes, die vor ihm aufgeschlagenen Bücher. Diese seltsam anmutende Szenerie sorgt bald für einen überraschenden Effekt: Sie schärft die Sinne des Zuschauers auf extreme Weise. Denn nun ist plötzlich zu sehen, was einem sonst entgangen wäre – das Detail.
Um die menschliche Wahrnehmung kreist Heiner Goebbels in seinem Stück „Mit einem Namen aus einem alten Buch“, das am Freitagabend im Stadttheater Gießen Premiere feierte. Und die Wahrnehmung des Publikums wird darin auf alle erdenkliche Weise gefordert: mit Literatur, Musik, Klang, Stimmen, Geräuschen, Bildern, Videos, Licht und Farben. Es ist ein rund 90-minütiges Bühnenereignis, das sich den gängigen Spielregeln des Theatergeschehens auf eindrucksvolle Weise entzieht.
Denn Heiner Goebbels, der international erfolgreiche Regisseur und Komponist, verweigert sich mit dieser „szenischen Lesung“ einer stringenten Handlung, einer nachvollziehbaren Geschichte. Hier gibt es keine ausgearbeiteten Figuren, keine Dialoge, keinen größeren Zusammenhang zwischen den einzelnen Kapiteln. Stattdessen Texte von vier eher sperrigen Schriftstellern – Heiner Müller, Ronald Goetz, Alain Robbe-Grillet und Hugo Hamilton –, die als künstlerische Rohmasse für diesen musikalischen Theaterabend verwendet werden. Die beiden Schauspieler David Bennent und Lisa Charlotte Friederich nehmen sich dabei abwechselnd den literarischen Vorlagen an und verschaffen ihnen tatsächlich „Klang, Struktur und Körper“, wie es in der Ankündigung heißt.
Und die einst in Gießen ausgebildete Schauspielerin sorgt gleich zum Auftakt dafür, dass unvorbereitete Zuschauer in größtmögliche Irritationen gestürzt werden. Im noch hellen Saallicht steht sie am Bühnenrand, daneben ein Dutzend aufgereihter Musiker des Philharmonischen Orchesters Gießen. Was nun beginnt, ist eine Art hochrhythmischer Shit-Storm, der allen diesem Programm kritisch gegenüberstehenden Theaterbesuchern das Material frei Haus vorgibt. „Dreck! Pest! Hass!“ presst die Sprecherin die Sätze aus Rainald Goetz‘ Theatertrilogie „Krieg“ stammenden Tirade wie eine Rapperin ins Mikro, während die Instrumentalisten ihre Wortkaskaden mit temporeichen Dissonanzen unterstreichen. „Hören Sie das?!“, wiederholt Friederich immer wieder, immer aggressiver, während die Musik anschwillt – und in ihrer Intensität und Lautstärke nun wirklich nicht zu überhören ist.
Doch auf Schnelles, Hartes, Herausforderndes folgt bald Leises und Sensibles. David Bennent nämlich, der am Schreibtisch sitzt, eine „Szene“ von Alain Robbe-Grillet vertont, und damit den Zuschauer in ganz anderer Weise auf sich selbst zurückwirft. Und so setzt sich der Abend fort. Insgesamt sechs Stücke, Kapitel, Szenen sind es, die Heiner Goebbels zusammen mit Monika Gora (Bühne), Jan Bregenzer (Licht), René Liebert (Video) sowie dem Philharmonischen Orchester Gießen unter Leitung von Pablo Druker entwirft. Alle sind anders, überraschend, rätselhaft. Und alle bieten sie den Zuschauern die Möglichkeit, „sich selbst einen Sinn zu suchen“, wie Heiner Goebbels zuvor im Pressegespräch angeboten hat. Neugierigen Theaterbesuchern bietet sein Stück jedenfalls eine hervorragende Gelegenheit, sich aufs offene, unbekannte Terrain zu begeben und sich von anderen Ausdrucksformen der Kunst herausfordern zu lassen. Das Premierenpublikum zeigte sich angetan, der Applaus fiel laut und lange aus.
Björn Gauges, 07.05.2018, Gießener Anzeiger