Verloren in Raum und Zeit: Experimentelle Sprechoper nach Motiven von Jules Verne schießt auf der taT-studiobühne am Ziel vorbei.
Zwischen Mond und Erde kann Unvorstellbares passieren. Genau der richtige Ort also für Jules Verne, um seiner überbordenden Fantasie freien Lauf zu lassen. Im Jahr 1870 schrieb der Franzose den Science-Fiction-Klassiker "Reise um den Mond" - ein Buch, das Jost von Harleßem zum Anlass für ein Theaterexperiment nahm. Sein als "Sprechoper" firmierendes Werk "Autour - Reise um den Mond" feierte jetzt Premiere auf der taT-studiobühne.
Und dieses in Kooperation mit der Justus-Liebig-Universität entstandene Masterabschluss-Projekt ist ein sehr freies, sehr assoziatives Stück Theater geworden, das der Regisseur, Drehbuchautor und Bühnenbildner in Personalunion geschaffen hat. Drei Raumfahrer machen sich darin auf ihren abenteuerlichen Weg zum Mond: der Franzose Michael Ardan (Pascal Thomas) sowie die Amerikaner Captain Nicholl (Ewa Rataj) und Impey Barbicanne (Lotta Hackbeil). Doch in ihrer Raumkapsel blinken und blitzen keine Apparaturen wie es der für das Publikum unsichtbare Erzähler Sebastian Songin mit sonorer Stimme zu Beginn beschreibt. Vielmehr bewegt sich dieses Trio, in biedermeierlichen Kleidern (Kostüme: Katharina Sendfeld) steckend, durch ein eher schäbiges Wohnzimmer, das ebenfalls aufs 19. Jahrhundert verweist. Wären da nicht eine Winkekatze aus Plastik, eine Flasche Whiskey oder ein grünes Notausgangsschild, die ebenfalls zu diesem Bühnenarrangement gehören. Nur durch ein geöffnetes Fenster ist die Kraterlandschaft des nahen Mondes zu erkennen.
Soweit der optische Bruch zwischen Textvorlage und Bühnenkulisse. Doch es wird noch verrätselter, noch irritierender. Denn nur mit Mühe lässt sich den drei Raumfahrern und ihren Auslassungen zu diesem und jenem Thema folgen. Ein toter Hund umkreist da ihr imaginäres Gefährt, Astronaut Ardan verspürt mehrfach einen metallischen Geschmack im Mund und die im Rüschenrock steckende Barbicanne mutiert plötzlich zum grünen Reptil mit spitzen Zähnen, das den Herrschaften freundlich Käse und Tee serviert.
Jost von Harleßem hat den Text Jules Vernes förmlich auseinandergerissen, in einer Art Sampletechnik neu zusammengesetzt - und lässt seine Besatzung damit am Ziel vorbeischießen. So werden immer wieder Satzfetzen wiederholt, Halbsätze von den anderen Protagonisten fortgesetzt, Sinn und Unsinn so fröhlich wie belanglos miteinander verbunden. Da schwadroniert Ardan vom Wappentier Huhn, das dem Adler weit überlegen sei. Da öffnet Nicholl eine Coladose nach der anderen. Und manchmal neigen alle drei auch nur gleichzeitig stumm die Köpfe. Die Darsteller machen das ganz ausgezeichnet und lassen das Publikum im ausverkauften Saal dieser absurden Reise so gut folgen, wie es eben möglich ist. Und dennoch wäre das Ganze bald ermüdend, wenn es nicht mit der Musik dreier am Bühnenrand postierter Instrumentalisten gekoppelt wäre. Christian Keul (Piano, Bass), Andreas Jamin (Posaune) und Joe Bonica (Schlagzeug) improvisieren immer wieder spannende Motive, die das Bühnengeschehen illustrieren, umspielen und vor allem rhythmisieren. Da gibt es fragile hingetupfte Klangflächen, die wie eine subtile Filmmusik funktionieren. Da gibt es groovenden Jazz, zu denen die Schauspieler lässig über die Bühne tänzeln. Und da gibt es eine kurze Anspielung auf Richard Strauss' berühmtes Stück "Also sprach Zarathustra", das Stanley Kubrick für sein geniales Epos "2001 - Odyssee im Weltraum" verwandt hat.
Musiktrio trägt das Stück
Die Musik trägt diese rund 60 Minuten lange "Sprechoper" wie der Treibstoff das seltsame Raumschiff, in das von Harßelem seine Figuren gesteckt hat, um mit ihnen und durch sie viele inhaltliche und inszenatorische Ideen miteinander zu verweben. Am Ende seines Stücks hat sich die Winkekatze vervielfacht und Dutzende dieser Plastiktiere bedecken Arme schlackernd den schwarzen Bühnenboden. Ein stimmiges Bild für ein Theaterexperiment, das von allem einfach zu viel auf die Bühne bringt - und sich damit in Beliebigkeit verliert.
Björn Gauges, 17.04.2018, Gießener Anzeiger