Fesche Husaren, schicke Damen, verträumte Melodien, Champagner und schmissige Tänze unterm Kronleuchter - Operettenherz, was willst du mehr? Mit seiner neuesten Entdeckung hat das Gießener Stadttheater offensichtlich wieder einmal alles richtig gemacht. Diesen Schluss lässt zumindest die überschwängliche Reaktion des Premierenpublikums am Samstagabend im vollbesetzten Haus zu: Mit hellem Jubel feierten die Besucher ein frühes Werk des ungarischen Komponisten Emmerich Kálmán, das völlig in Vergessenheit geraten war. In der dreistündigen Inszenierung des ungarischen Regisseurs Balázs Kovalik erlebte "Herbstmanöver" eine muntere Wiederbelebung auf der Bühne - wenn auch mit durchaus vermeidbaren Längen und überstrapazierter Komik.
Raffiniertes Bühnenbild
Kálmán ist mit dieser Operette, die zunächst in Budapest unter dem Titel "Tatarenplage" und ein Jahr später umgearbeitet als "Herbstmanöver" in Wien herauskam, 1909 mit einem Schlag weltberühmt geworden. Wie bereits berichtet, hat Kovalik in intensiver Archivarbeit aus beiden Urfassungen eine neue Gießener Fassung erstellt. Darin geht es um ein Husarenregiment, das in die Puszta ausrückt und nahe beim Schloss der Baronin Riza sein Herbstmanöver abhält. Die heitere Muse interessiert sich in diesem Fall aber weniger fürs Militärische, sondern eher für das mit jedem Manöver einhergehende Gesellige und natürlich für alle Spielarten der Liebe.
Wie schon so oft hat Lukas Noll mit seinem raffinierten Bühnenbild auch diesmal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. In einem Guckkasten zeigt es den hohen, ganz in Weiß gehaltenen Salon des Schlosses mit einem großen Kronleuchter. Hier darf ausgiebig gefeiert werden. Nach hinten öffnet sich aber der Raum. Da klafft ein großes schwarzes Loch als Sinnbild einer finsteren, ungewissen Zukunft. Und wenn sich der Kasten dreht und dem Zuschauer seine dunkle Außenwand zeigt, sind dort zu Beginn während der Ouvertüre eingeblendete Bilder aus dem Ersten Weltkrieg zu sehen: Panzer, Maschinengewehre, Giftgastote im Schützengraben. Seht her, will uns die Regie damit sagen, die Husaren zu ihren Pferden sind angesichts der modernen Kriegstechnik längst zum Anachronismus geworden, sie wollen es nur nicht wahrhaben.
Die Handlung um einen von der Liebe enttäuschten Offizier, der zwischen zwei Frauen steht, spielt am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Dabei lässt Kovalik immer wieder Zukünftiges anklingen, was zuweilen ziemlich aufgesetzt wirkt wie zum Beispiel die eingeschobene Geschichte vom Untergang der Titanic oder die Verweise auf das aktuelle Ungarn in der EU. "Seine Musik lächelt unter Tränen", urteilte ein zeitgenössischer Kritiker über Emmerich Kálmán. Diesem unter Tränen lachenden Weltschmerz, wo angesichts der nahenden Katastrophe alle Beteiligten im schönen Schein der Operette ein letztes Mal Zuflucht suchen, geht Kovalik mit Fantasie und Einfallsreichtum nach, aber nicht immer mit glücklicher Hand.
Ein schöner Einfall ist, wenn die feinen Damen aus der Stadt zum Manöverball anreisen und vor dem Schloss auf den alten Großknecht Bence treffen. "Aaah, ein echter Bauer", rufen sie entzückt aus und zücken ihre Smartphones, um Selfies mit dem Alten zu machen. Ein weiterer Einfall ist die schwule Version des Soldaten Schwejk: Erzkomödiant Tomi Wendt spielt diesen Soldaten, der "keine Kriegsnatur" hat und den das Schießen nervös macht. Dabei wird die Komik - gerade im zweiten Teil - doch sehr überstrapaziert, denn der Witz und die sexuellen Anspielungen bewegen sich auf dem Niveau infantiler Pennälerspäße von annodazumal.
Dazu lächelt die Musik und klingt immer ein bisschen wehmütig. "Schon das einfachste Lied, schon der kleinste Walzer muss jenen zündenden Funken haben, der die Leute mitreißt", so die Überzeugung des Komponisten. Und dieser zündende Funke blitzt im "Herbstmanöver" an vielen Stellen auf. Die Musik ist durch und durch ungarisch und geht direkt ins Ohr. Da gibt es feurigen Csardas, Walzer, sentimentale Serenaden und Duette, dazu das ganz große Blech, damit es nach Jazz und Bigband klingt. Und wie perfekt der Komponist die Kunst der farbenreichen Instrumentation beherrschte, wird in der beschwingt-inspirierenden Wiedergabe durch das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung von Michael Hofstetter in jedem Augenblick spürbar. Hier lebt alles von der Kraft der Melodien und den musikalischen Einfällen.
Und wenn man - wie in dieser Inszenierung - über Darsteller verfügt, die den Ton zwischen Lebensfreude und Melancholie genau treffen, ist der Abend schon gerettet. Da sind die bezaubernde Marie Seidler als Treszka und Christiane Boesiger als Baronin Riza, die ihren leidenschaftlichen Gefühlen mit klarem, feinem Ton Ausdruck verleihen, da ist Grga Peros, der als unglücklich verliebter Offizier nur stimmlich frei ist, aber in seiner Rolle viel zu viel Würde und Ehre mit sich herumschleppt. Und da ist Clemens Kerschbaumer, dessen Tenor als umschwärmter Frauenliebling so hell und silbern strahlt wie die Tressen an seiner Galauniform. Rainer Domke, der demnächst 82 Jahre alt wird, zeigt den Jungen in der Rolle des Großknechts noch einmal, wie man ein Publikum allein durch die Kraft des Wortes bannt. Rainer Hustedt präsentiert sich als Gutsverwalter im schwulen Duett mit Tomi Wendt von seiner komischen Seite, und Harald Pfeiffer mischt als wütender Feldmarschall das Geschehen auf. Das Bild vervollständigen die Mitglieder des Chores als Soldaten und Damen der Gesellschaft, die Tänzer der Tanzcompagnie und der ungarische Stehgeiger Robert Varady.
Von der Musik her ist Kálmáns "Herbstmanöver" eine Wiederentdeckung, die auch für andere Bühnen interessant sein könnte. Die Gießener Fassung kann durch Kürzungen nur gewinnen.
Thomas Schmitz-Albohn, 30.10.2017, Gießener Anzeiger