Henrietta Horns Neu-Einstudierung ihres Stücks "Auftaucher" mit der Tanzcompagnie Gießen im taT
Am Anfang ist der Rhythmus. Zunächst im vollkommen dunklen Theaterraum. Dann wird im eingeschalteten Scheinwerferlicht auch der Mann sichtbar, der den sonoren Klang mit zwei kleinen Schütteleiern und der immergleichen Bewegung hervorruft. So agiert er als strenger Taktgeber für das fulminante Tanzstück "Auftaucher" von Henrietta Horn, das am Donnerstagabend auf der taT-Studiobühne seine Gießener Premiere feierte. Es geht um Paare und ihre Beziehungen - spannungsgeladene und temporeiche 65 Minuten lang nahezu ohne jede Requisite.
Frauen und Männer können sich einander auf die unterschiedlichsten Arten annähern: vorsichtig und behutsam, leidenschaftlich und emotional, gar aggressiv-bedrohlich und bisweilen auch unfreiwillig komisch. All das zeigt die Tanzcompagnie Gießen in ihrer Version des Stücks "Auftaucher", dass Henrietta Horn bereits im Jahr 1999 für ein Ensemble im polnischen Bytom entworfen hat. Diese ursprünglich zwölf Minuten lange Choreografie wurde seitdem vielfach adaptiert, weltweit aufgeführt und von Henrietta Horn selbst zusammen mit dem Ensemble des Essener Folkwang Tanzstudios neu bearbeitet. Zuletzt hat sie es 2016 mit dem Ensemble des Staatstheater Braunschweig erneut einstudiert.
Das zugrunde liegende, zeitlose Motiv ihres Stücks bietet dazu tatsächlich unzählige Möglichkeiten. Auf der schwarzen, bis auf einige Stühle nackten Bühne des taT bekommen die je fünf weiblichen und männlichen Tänzer, alle elegant-modern gekleidet (Kostüme: Katharina Andes), zunächst Zeit und Raum zum gegenseitigen Umkreisen. Da sind immer wieder alle gemeinsam in Bewegung, laufend, rennend, springend, bis sich zwei Figuren aus der Szenerie abheben, umkreisen und kunstvoll annähern - ohne sich jedoch jemals zu berühren. Verstärkt wird dieser menschliche Balztanz dann durch den mächtig anschwellenden Rhythmus, den nun alle anderen gemeinsam mit ihren unscheinbaren Rasseln hervorbringen.
Die sind neben den Stühlen nicht nur das einzige, sondern auch ein ungemein bedeutsames Requisit, das Gefühlszustände anzeigt und bisweilen sogar verstärkt. Mal sanft und leise, dann kraftvoll und bisweilen sogar zügellos. Wenn ein Tänzer dann von der Leidenschaft gepackt wird, wirft er seine beiden kleinen Percussions so wild und zackig durch die Luft, dass sich die angespannten Bizepse unter dem engen Hemd abzeichnen.
Strenge Kontrolle und unterdrückte Leidenschaften werden in "Auftaucher" also auf verschiedene Weise durchgespielt, wenn etwa ein leicht süßlicher Tango von Filmkomponist Lalo Schifrin angespielt wird - und ein Tänzer hinter einem Paar parodierend einen Stehgeiger markiert. Oder ein plötzlich einsetzender feuriger Flamenco einen jungen Mann zu einem extrovertierten Solo animiert - bis er von der Gruppe mit ein paar scharfen Blicken wieder zur Räson gebracht wird.
Solcherlei Witz durchzieht das gesamte Stück der Choreografin, die zusammen mit der weltberühmten Pina Bausch im Jahr 1999 die künstlerische Leitung des Folkwang Tanzstudios übernahm und dort bis 2008 arbeitete. Doch dann zieht Henrietta Horn das Tempo noch einmal richtig an. Zum Höhepunkt des Stücks setzt Brassmusik der rumänischen Kapelle Fanfare Ciucarlia ein. Eine Musik voller Tempo, Kraft und schierem Irrwitz, die den Tänzern die Möglichkeit zu einem furiosen Finale liefert. Zwei von ihnen stehen sich plötzlich im Duell gegenüber, angefeuert von zwei unterschiedlichen Lagern, die wie bösartige Voyeure nach Gewalt verlangen. Dieser Kampf macht die Menschen zu von ihren Leidenschaften besessenen Figuren - und "Auftaucher" endgültig zu einem wunderbaren Tanzabend. Langer, lautstarker Applaus war die verdiente Reaktion des Premierenpublikums.
Björn Gauges, 02.12.2017, Gießener Anzeiger