Seine Familie kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Peter Handke will es auch gar nicht. Ganz im Gegenteil. In seinem wohl persönlichsten Bühnenstück "Immer noch Sturm" verleiht der österreichische Schriftsteller seinem Erzähler namens "Ich" die Fähigkeit, die eigenen Ahnen aus der Erinnerung ins Leben zurückzuholen - um so zu erfahren, warum er wurde, was er ist. Am Samstagabend feierte das Schauspiel Premiere im Gießener Stadttheater. Gastregisseur Titus Georgi und seinen acht Darstellern gelang es dabei vortrefflich, dem reichen Stoff eine passende Form, einen passenden Rhythmus zu geben und für einen intensiven dreistündigen Theaterabend zu sorgen, der nahezu ohne Längen auskam.
In der Grenzregion
Schauplatz der Geschichte ist das Jaunfeld, ein Ort im österreichischen Kärnten, nahe der Grenze zum heutigen Slowenien. Hier lassen Handke und Georgi die zur slowenischen Minderheit zählende Familie des Ich-Erzählers aus dem Jenseits auferstehen. Seine Großeltern mütterlicherseits (Carolin Weber, Thomas Wild), seine unverheiratete Mutter Maria (Anne-Elise Minetti) und ihre Schwester Ursula (Paula Schrötter) sowie die drei Brüder Gregor, Valentin und Benjamin (Lukas Goldbach, Maximilian Schmidt, Stephan Hirschpointner). Die besondere Kunst des "Ichs": Er sieht diese Menschen in einem Alter vor und neben sich, in dem er sie selbst nie kennenlernen konnte.
Darsteller Christian Fries übernimmt die zentrale Rolle des den komplexen Theaterabend strukturierenden Erzählers, der mit seinem Sakko, seiner Jeans und seinem schwarzen Metal-T-Shirt aus dem Hier und heute kommt. Er spricht in einem sachlich moderierenden, häufig auch schnoddrig kommentierenden und nur selten emotionalen Ton, wenn er die Geschichte und Geschichten der Familienmitglieder vorantreibt. Seinen Vorfahren hingegen ist sofort anzusehen, dass sie einer anderen Zeit, einem anderen Jahrhundert entstammen: die Großeltern tragen grobe bäuerliche Kleidung einer so längst nicht mehr existierenden Landbevölkerung, ihre Kinder unvorteilhafte Hemden und Hosen, die ebenfalls aus der Zeit gefallen sind. Und doch redet man hier von gleich zu gleich miteinander - und "Ich" erfährt ebenso wie das Publikum aus nächster Nähe, wie es seiner Familie in der dramatischen Epoche des mittleren 20. Jahrhunderts ergangen ist.
Dabei lässt sich die Geschichte recht harmonisch an. "1936 war unser glücklichstes Jahr", betonen die Ahnen nahezu allesamt. Handke entwirft und Georgi zeigt hier eine Art ländliches Idyll, in dem die ethnischen Konflikte der Region noch kaum zu spüren sind. Man hat sich in einer relativen Armut eingerichtet, widmet sich seinem Land mit Tieren und Feldern oder seinem Obstgarten, wie der gutmütige Apfelspezialist Gregor. Doch nur zwei Jahre später wird die Region Teil des Nazi-Reichs, Deutsch zur Herrenmenschensprache - und die Tragödie nimmt ihren Lauf.
Regisseur Georgi und Bühnenbildner Jochen G. Hochfeld verorten den Schauplatz der Geschichte an einem einzigen, abstrahierten und ins Offene verweisenden Ort. Handkes Jaunfeld wird durch quer über der Spielfläche hängende Holzstämme symbolisiert, die sich auf- und abfahren lassen und damit nahezu unmerklich mehrfach neue Bühnenszenerien schaffen. Hier kommt es, unterstützt und strukturiert von der sensiblen Instrumentalmusik Parvis Mir-Alis sowie den Hintergrund ausleuchtenden Videosequenzen, immer wieder zum "allgemeinen Innenhalten", wie "Ich" das nennt, zu Annäherungen und Umarmungen - bevor die einzelnen Figuren über ihre Schicksale Auskunft geben und sich dabei mehr und mehr ein Riss durch die Familie zieht.
Handke macht das an vielerlei Konstellationen und Konflikten fest. Zwei Söhne ziehen mit der Wehrmacht in den Krieg, Georg geht dagegen nach der Vertreibung aus seinem Apfelgarten wie Tochter Ursula zu den jugoslawischen Partisanen in die Wälder. Der Vater verflucht die Besatzer, während die Mutter nahezu stumm das schwere Familienschicksal annimmt und sich die meist unbekümmerte Tochter Maria von einem deutschen Soldaten schwängern lässt - was inmitten der zunehmenden Kriegswirren einen anfangs milden Wind in einen schweren Sturm verwandelt.
Peter Handke, am 6. Dezember 1942 geboren, hat sich immer wieder literarisch mit seiner eigenen Vergangenheit und der Zuwendung zur slawischen Familienidentität auseinandergesetzt. In den 1990er Jahren sorgte er etwa für eine heftige Kontroverse, als er "Gerechtigkeit für Serbien" forderte und später auch den als Kriegsverbrecher verurteilten jugoslawischen Ex-Präsidenten Slobodan Miloševic verteidigte. Kritiker werfen ihm daher bis heute vor, den Balkan auf eine Weise zu idealisieren, die wenig mit der Realität gemein habe.
Doch in diesem 2011 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführten Stück macht er es sich und seinem Publikum nicht so leicht, Position zu beziehen. Die Figuren sind allesamt mit einem reichen Innenleben ausgestattet, was die häufig mit großer Sprachmacht ausgestatteten Dialoge zu einem anregenden Vergnügen macht. Hier scheint immer wieder die große Wortschöpfungskunst des Schriftstellers durch, wenn etwa Thomas Wild als verzweifelter Großvater über seine gefallenen Söhne trauert und "den Deitschen" verflucht - "mit seiner Luftzerhackersprache, mit seiner Eintongabelstimme, mit seinem Trommelfelldurchstoßbrüllen ...." Dagegen steht etwa die Mutter, die Anne-Elise Minetti als selbstbewusste, auch mutige Frau skizziert, die ihre Schwangerschaft und ihren halbdeutschen "Bankert" mit aller Macht gegen die eigene Familie verteidigt - wie der nun als gestandener Mann erkennt.
Viel Raum für Darsteller
Regisseur Titus Georgi gibt seinem Ensemble viel Raum, um die entsprechenden Charakterzeichnungen vornehmen zu können. Und die acht Darsteller nutzen ihre Möglichkeiten durchweg souverän und zeigen allesamt echte Menschen in dramatischen Konflikten. So gibt es wenig auszusetzen an dieser Inszenierung, deren Schlussbild als das vielleicht stärkste dieser Gießener Schauspielsaison in Erinnerung bleibt.
Allenfalls die allzu aufdringlichen Analogien zur jüngsten über den Balkan führenden Flüchtlingsgeschichte, die mittels eines plötzlich auf der Bühne auftauchenden Schlauchboots mit EU-Sternen-Aufdruck angeboten wird, hätte sich der Regisseur sparen sollen. Solche Symbolik hat im Titel auf Shakespeare verweisende, überaus anspielungsreiche Stück nicht nötig, das auch ohne entsprechende Hinweise vom Konkreten aufs Allgemeine verweist. "Niemand sollte erwarten, von der Geschichte unbehelligt bleiben zu können", schrieb der Publizist Niklas Maak. Doch die Geschichte kann sich auch als unbarmherzig erweisen, wenn sie wie ein Sturm über das Leben des Einzelnen hinwegfegt - ob in Kärnten oder irgendwo sonst auf dieser Welt.
Björn Gauges, 16.04.2018, Gießener Anzeiger