Wo Musik uns Beine macht: Heiner Goebbels am Theater Gießen
Ob Musik tatsächlich nur begriffslos verstanden werden könnte, wie aus der Freiburger Musikwissenschaftlerschmiede vor gut vierzig Jahren verbreitet wurde, bewegt sich als verkracht-theologische Behauptung auf dem Reflexionsnievau von Ludwig Thomas frohlockendem „Münchner im Himmel“ und verdient das Wort Wissenschaft eigentlich nicht. Ebenso platt ist es, bei Konzerten von Barockmusik Kerzen anzuzünden, weil Johann Sebastian Bachs Zeitgenossen noch keinen Strom hatten. Das empfand schon Theodor W. Adorno der Barockmusik gegenüber als aufdringlich und musste nicht nur deswegen den Thomas-Kantor gegenüber seinen Liebhabern verteidigen. Überhaupt bringt die Gemeinde der bewussten Musikhörenden weder das eine noch das andere näher an den lieben Gott heran, von dem wir uns ja auch kein Bild machen sollen: Bye-bye, Transzendenz. Vielleicht mag er Bachs Musik auch gar nicht?
Wer das nicht aushält, dem sei zum Schöner-Heulen Gustav Mahlers großartige „Auferstehungssymphonie“ empfohlen. Wer aber diesen Sentimentalitätsverlust aushält und an seiner Stelle künstlerische Kontingenz mit wunderbarerer Gegenwartsverbundenheit selbst leben möchte, dem sei der Komponist, anwendende Theatertheoretiker und Soziologe Heiner Goebbels wärmstens empfohlen. Ihm ist kein künstlerischer Widerspruch zu heilig, als dass mit ihm nicht kreativ gearbeitet und durch seine Benennung auf offene gesellschaftliche Fragen nicht ein Antwortversuch gestartet werden könnte. Da steht er auf gleicher Betrachtungsebene wie der brilliante Operntheoretiker Oskar Bie Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, der dem Wagnerismus mit seinem sektiererischen Unendlichkeits- und Liebestodgedöns, frei nach Andrea Nahles, einen Vogel zeigte. In der Oper, so Bie, passte kein Medium zum anderen und bei allem Bühnengeschehen wollte die Musik ständig symphonisch werden, dabei letztlich die sprachlichen und szenischen Mittel wegbügeln, um begriffslos, siehe oben, schalten und walten zu können.
Wer aber Heiner Goebbels aufführt, wie jetzt mit dem szenischen Konzert „mit einem Namen aus einem alten Buch“ unter der Intendantin Cathérine Miville am Stadttheater Gießen engagiert geschehen, erzielt nicht nur einen diskursiv-ästhetischen Mehrwert, der sofort wieder vergesellschaftet werden kann, sondern auch den zukunftsfinanzierungsrelevanten Nebeneffekt, ein sehr junges Publikum zu gewinnen. Kurze Hose und T-Shirt dominieren die Kleiderordnung an diesem frühsommerlichen Theaterabend an der Lahn.
Der Neuen Musik mit ihrem emphatischen, geschichtsphilosophisch aufgeladenen Materialbegriff, der gerade in einer verschrobenen Diesseitigkeitsästhetik der mittleren Komponistengeneration überwintert, zeigt Goebbels seit jeher einen Vogel. Entweder bringen bei ihm die Musiker die Musik als eigene Erfahrung schon mit, oder Goebbels schafft eigenwillige Klangbilder, die auch nicht vor gebrochenen, jedoch nicht ihre Hörer denunzierenden Klischees kehrtmachen, sondern sie durchdringen. Unter der Leitung des jungen aufstrebenden Dirigenten Pablo Druker zeigt das Philharmonische Orchester Gießen, verstärkt um Gastmusiker, intonatorische Größe im schablonenhaft groben wie im äußerst durchgehört leisen Arrangement eigener Werke im traditionellen Sinn und wirkungsvoll konzertanter neuer Bühnenmusik.
Seine „Namen aus einem alten Buch“ bestehen aus sechs szenisch-klanglich-sprachlichen Bewegungstableaus mit dem goebbelserfahrenen Schauspieler David Bennent, der aufbegehrend agitatorischen Sängerin/Rezitatorin Lisa Charlotte Friederich, den Musikern auf und unter der Bühne, mobilehaften Objekt- und Lichtdarstellungen und poetischen Textprojektionen: alles von Heiner Goebbels gestaltet. Dank Bennents leicht belegter und immer gleichbleibend ruhiger Stimme als klangliche Heiner-Müller-Annäherung geraten die bildbeschreibenden Texte des szenischen Milieus zu einem alle möglichen Zeitgefühle freisetzenden Assoziationsraum fernab verklärender Begriffslosigkeit. Licht und Schatten, Säulen, Instrumente und Körper sind dabei nie mehr als sie selbst. Betrachtend und hörend entsteht in dieser nichtrezeptionslenkenden Regie von Goebbels für jeden Dabeigewesenen im Publikum eine jeweils eigene Werkversion in der eigenen Phantasie.
Špela Mastnek (Schlagzeug), Neus Estarellas und Evgeni Ganev (beide Klavier) heizen schließlich als „Running“-Trio auf halbverdunkelter Drehbühne mitreißend ein. Das klingt so frisch hineinimprovisiert und mit Herzenslust gerockt, dass niemand auf die Idee käme, dass es sich hier um die Klavierbearbeitung seiner 1994 komponierten Surrogate Cities für großes Orchester handelt. Durch die Straßen der Stadt zu rennen macht dich neu, ist der Tenor der Textaussage zur treibenden Musik. Man würde am liebsten gleich nach der Vorstellung losrennen. Das alles kann Stadttheater bewirken. Behandelt es gut!
Achim Heidenreich, 09.05.2018, Frankfurter Allgemeine Zeitung