Ein bewegender Abend, voller Musik und Emotionen. "Rio Reiser - König von Deutschland" heißt das neue Erfolgsstück am Stadttheater Gießen. Geradezu frenetisch der Applaus am Ende vor ausverkauftem Haus. Die Zuschauer jubeln den Akteuren zu: Den Hauptdarstellern Lukas Goldbach (Rio Reiser) und Roman Kurtz (Erzähler), der ambitionierten Hausband des Theaters, den zwei Gastmusikern und vor allem dem musikalischen Leiter Sascha Bendiks und Regisseur Christian Lugerth.
Eine ideenreiche und einfühlsame Inszenierung, in der genau auf Tempo und Lautstärke geachtet wird: Ganz leise fängt alles an, im Transistorradio dudelt "Der Junge am Fluss". Der Erzähler (durchweg Spitzenklasse: Roman Kurtz) steht vor dem Vorhang und liest aus Rio Reisers Autobiografie das Kapitel über die Geburt des Sängers in der Buchenallee 17 in Berlin. "Ich hab nicht geschrien. Ich war ein gutes Kind".
Das sollte sich schlagartig ändern. Der Vorhang geht auf: "Macht kaputt was euch kaputt macht", brüllt Rio Reiser, Frontmann der ersten deutschen Rockband "Ton Steine Scherben" ins Mikrofon. Mit dem Schauspieler Lukas Goldbach ist eine nahezu ideale Besetzung des legendären "Königs von Deutschland" gefunden.
"Eine musikalische Biographie von Heiner Kondschak" ist im Programmheft zu lesen. Lugerth und Bendiks verbinden die einzelnen Songs und Szenen zu einer spannenden Rahmenhandlung. Verbindungsmann ist der im Originalstück nicht vorhandene Erzähler.
Herausgekommen sind knapp drei Stunden beste Theaterunterhaltung: Für die große Zahl anwesenden älteren Semester verbunden mit Erinnerungen an die eigene Studien-, Demonstrations- und WG-Zeiten. Für junge Zuschauer ein Lehrstück über die Geschichte der BRD in den 70er und 80er Jahren, die APO und ihre Erben, die Hausbesetzer-Szene, die Anti-Atomkraft-Bewegung und schließlich eine veränderte Gesellschaft nach dem Mauerfall.
Die Stimmung ist in einem treffenden Bild auf die Bühnenleinwand projiziert. Auf altem Mauerwerk ist ein Graffiti zu lesen: "Friede den Hütten, Krieg den Palästen", ein Slogan, der in Gießen bestens bekannt ist, wurde er doch hier im Jahr 1834 von Georg Büchner zu Papier gebracht. Dazu der Sound aus den 1970er Jahren. "Keine Macht für Niemand", "Die letzte Schlacht gewinnen wir" oder auch der "Shit-Hit". In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Woher kam nur dieser durchdringende Haschisch-Geruch?
Zu erleben sind in einem musikalisch grandiosen Schnelldurchlauf die Höhen und Tiefen von "Ton Steine Scherben", die in jenen Jahren zu Solidaritätskonzerten durch die Republik tourten, häufig kein Eintrittsgeld nahmen und schließlich 1986 trotz des Managements von Claudia Roth (köstlich dargestellt von Rainer Hustedt) mit einem Schuldenberg von 200 000 Mark dastanden. Zuvor noch der Umzug von Berlin in die Landkommune in Fresenhagen. Die Musiker sind nun umgeben von viel Grünzeug, Gartengeräten und einem weißen Lattenzaun. Doch für die Rettung der "Scherben" war es zu spät, berichtet der Erzähler, der immer wieder ins Geschehen eingreift und für den Fortlauf der Erzählung sorgt.
Rio Reiser startet zu seiner Solokarriere. "Wenn ich König von Deutschland wär" schafft es bis heute in die Charts und ist bis heute unvergessen. Wunderbar gelöst: Lukas Goldbach singt ganz in Rio-Manier, doch mit eigenen Untertönen. Eine hundertprozentige Kopie des Ausnahmekünstlers ist künstlerisch uninteressant und ohnehin nicht zu erreichen.
Bewegende Szenen, bewegende Lieder: Rio Reiser, der Kämpfer und Romantiker. Er ist einer der ersten Musiker, der sich in den 70er Jahren zu seinem Schwulsein bekennen. In der Inszenierung wird dieses mutige Bekenntnis besonders thematisiert mit der Schaffung des "Ewigen Geliebten", mal einfühlsam, mal flott gespielt von Pascal Thomas in verschiedenen Gewandungen.
Dass er sich immer mehr vom Häuserkampf abwendet und jetzt mehr gefühlvolle Balladen und Liebeslieder schreibt, verzeihen ihm etliche der alten Kampfgenossen nicht. Dafür gewinnt er viele neue Fans hinzu.
Doch das Leben des Sängers ist kräftezehrend: "Ich bin müde", schreit der Sänger und haut verzweifelt auf die Tasten seines Klaviers ein. Das kann unter die Haut gehen. Im August 1996 stirbt Rio Reiser, und das Publikum bekommt nun auf ganz besondere Weise sein poetisches Lied "Junimond" zu hören. Finito, das Publikum tobt, als Zugabe spielen die Musiker "Halt dich an deiner Liebe fest" und verlassen einer nach dem anderen die Bühne in Richtung Zuschauerreihen, bis nur noch Anne-Elise Minetti mit ihrem Akkordeon im Rampenlicht steht. Dann geht auch sie.
Die weiteren Mitwirkenden: Mirjam Sommer (Christine Schily u.a.) und Milan Pešl (Lanrue) waren durchweg mit viel Musikalität und Begeisterung bei der Sache. Die Gastmusiker Sven Demandt (die Schlagzeuger) und Christian Keul (Sichtermann, Bass) rundeten den Sound ab.
Udo Herbster hat sich das authentische Bühnenbild und die Kostüme einfallen lassen. Dramaturgie: Gerd Muszynski.
Ursula Hahn-Grimm, 07.03.2016, Gießener Anzeiger