Von allem viel zu viel: Volksoper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ im Gießener Stadttheater als üppiges, überbordendes Spektakel
Im Gießener Stadttheater ist der Teufel los und richtet ein großes Tohuwabohu an, dass einem Hören und Sehen vergeht. Intendantin Cathérine Miville führt selbst Regie und hat alles aufgeboten, was singen, laufen, hüpfen, Rad schlagen und winken kann, um ein vergessenes Bühnenwerk wieder aus der Versenkung zu holen. So kommt die Volksoper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ des tschechischen Komponisten Jaromir Weinberger (1896 bis 1967) in ihrer Inszenierung als schreiend buntes, hemmungslos überbordendes Spektakel daher. Und als wäre dies nicht schon genug, agieren auch das Philharmonische Orchester Gießen und der Chor unter der Leitung des stellvertretenden Generalmusikdirektors Jan Hoffmann in diesen zweieinhalb Stunden durchgängig viel zu laut: von allem viel zu viel, alles zu mächtig, zu dick aufgetragen. Dabei gibt die Handlung nicht viel her und wird bei dieser mit großem Aufwand betriebenen Wiederbelebung mit allerlei Schnickschnack aufgepeppt.
Liebe, Glück, Erfolg
„Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ ist ein Märchen über die Kraft der Musik, über die ewige Suche des Menschen nach Liebe, Glück und Erfolg. Der tschechische Dichter Milos Kares griff für das Libretto tief in den reichen Schatz der böhmischen Volksmärchen, und Weinberger schuf auf dieser Grundlage eine pralle Volksoper, die nach ihrer Prager Uraufführung 1927 zunächst einen Siegeszug um die ganze Welt antrat – doch nach antisemitischer Zäsur durch den Nationalsozialismus lange von den Spielplänen verschwand. Nun ist das Werk auf die Gießener Bühne gelangt.
Hier macht das Publikum Bekanntschaft mit dem legendären Räuber Babinsky, einem böhmischen Robin Hood, der den Reichen nimmt und den Armen gibt. Als treibende Kraft dieser abenteuerlichen Geschichte knüpft und entwirrt er die Fäden und legt sogar, weil er so schlau und gerissen ist, den Teufel beim Kartenspielen aufs Kreuz. Doch zunächst trifft er auf eine andere populäre Figur der böhmischen Volkssage, den Dudelsackpfeifer Schwanda. Babinsky hat nämlich ein Auge auf dessen junge Frau Dorota geworfen und versucht nun, ihn von ihr wegzulocken. Daher überredet er den Dudelsackpfeifer, die wunderschöne Königin Eisherz in ihrem Eispalast zu erlösen. Schwandas virtuose Musik bringt ihr kaltes Herz zum Schmelzen – und landet bald darauf in der Hölle.
Mit immensem Aufwand hat der junge Bühnenbildner und Videodesigner Marc Jungreithmeier eine ausgeklügelte, optisch ansprechende Szenerie geschaffen, die übergangslos Orts- und Stimmungswechsel ermöglicht. Wie auf einem Gemälde des kubistischen Malers Georges Braque sieht man Hunderte von verschachtelten quadratischen Flächen hinter-, neben- und übereinander. Man könnte auch an die sogenannten Kacheln bei Windows im heimischen Rechner denken. Diese Kacheln werden je nach Bedarf mit Farben und Videobildern bespielt und zeigen am Anfang die häusliche Idylle des jungen Paares: hier gelbe Kornfelder, da ein Häuschen im Grünen mit Gardinen im Fenster und ziehenden Wölkchen und Gänsen am blauen Himmel. Paare in ländlicher Tracht tanzen Polka. In eisigem Weiß und Blau strahlt der Palast der Königin Eisherz, die in einem silbernen Korsett gefangen ist und sich erst durch Schwandas Gesang daraus befreien kann. Die Mitglieder des Hofstaats laufen geduckt und frierend umher, und die Gießener Streetdancerin Inga Schneidt muss vor der Königin Rad schlagen.
Die Hölle, in der sich der Teufel langweilt, erinnert an ein futuristisches Bild. Alles ist Grau in Grau. Hier hat die Regie den Chor, der die verlorenen Seelen darstellen soll, in Ganzkörperkondome gesteckt, und zum guten Schluss tanzen Groß und Klein in grauen Dekontaminierungsanzügen.
Gewiss sind Übertreibungen und groteske Überzeichnungen nun mal einem Volksmärchen eigen, doch in Mivilles „Schwanda“-Inszenierung, in der es einem zugegebenermaßen nicht langweilig wird, wirken doch manche Einfälle recht beliebig. Es gilt die uralte Weisheit: Weniger wäre mehr!
In der kraftstrotzenden musikalischen Wiedergabe bekommt das Publikum ordentlich was auf die Ohren. Unter Hoffmanns Dirigat lässt das Orchester das ganz Haus erbeben, und die Sänger haben zuweilen ihre liebe Not, um gegen die gewaltigen Klänge anzusingen. Weinbergers Partitur hat es in sich und erweist sich als durchaus ansprechende eklektizistische Mischung mit reichem Klangkolorit. Es gibt böhmische Volksmusik mit Liedern und Tänzen, die sich mit spätromantischen Raffinement und süffiger Orchesterüppigkeit verbinden, dazu eine meisterliche Fuge in der Hölle. Hier und da klingt es nach Smetana und Puccini, nach Klezmer, Jazz und Wiener Operette. In den schlagkräftigen Tanzrhythmen (vor allem in der Polka) drückt sich die berauschende Kraft von Schwandas Kunst aus. Die ausufernde Ouvertüre und die breiten sinfonischen Einschübe stellen jede Regie vor Herausforderungen. Cathérine Miville hat sich dafür entschieden, diese Leerstellen mit Amateurtänzen aufzufüllen.
Betörend
Mit seinem schönen, voll klingenden Bariton ist Martin Berner ein betörender Schwanda, der sich seiner Wirkung auf die Umwelt bewusst ist. Er verströmt Wohlklang und strahlt stimmliche Souveränität aus. Tilmann Unger kommt dagegen als Babinsky mit seiner zum Teil recht sperrigen Partie weniger gut zurecht und singt wie ein dauerangestrengter Wagnertenor, der sich in eine Operette verirrt hat. Bei ihm ist immer eine Spur zu viel Anstrengung im Spiel. Die Sopranistin Aleksandra Rybakova ist als Dorota nicht ohne Liebreiz, aber auch nicht ohne Schärfen. Ist das kalte Herz der Königin Eisherz erst einmal aufgetaut, lässt auch Dilara Bastar ihren Mezzosopran in dieser Rolle aufglühen. Ohne Probleme und mit komödiantischer Würze meistert der Bassist Christian Tschelebiew die Teufelsrolle. Seungweon Ezio Lee ist als Magier zu erleben, und Haustenor Clemens Kerschbaumer lässt sich zwar als Scharfrichter das Beil stehlen, steht aber ansonsten mit allen stimmlichen Anforderungen seinen Mann. Das Publikum dankte bei der Premiere am Samstagabend im voll besetzten Haus mit herzlichem Applaus.
Thomas Schmitz-Albohn, 26.03.2018, Gießener Anzeiger