Premiere zum Tanzart-Festival in der Studiobühne taT: Über allem die Stimme von Klaus Kinski, laut, exaltiert, provokativ. Seine berühmt-berüchtigte LP-Einspielung der lasterhaften Balladen und Lieder des Francois Villon mit dem Titel "Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund" diente jetzt der Tanzcompagnie Gießen als Grundlage ihres aktuellen Tanzabends mit dem Titel "Seid was ihr wollt". Gastchoreograf Massimo Gerardi gab Tempo und Tanzfolgen vor, das Bühnenbild stammt von Katja Wetzel, die Kostüme von Annika Klippstein. Nach der 65-minütigen hoch engagierten Aufführung spendete das Publikum lebhaften Beifall.
"Das Publikum wird in die schizophrene Welt Villons und Kinskis versetzt", schreibt Dramaturgin Maite Beisser zur Aufführung. Und so ist es von der ersten Minute an. Ein Mann betritt in Highheels die Bühne, zieht den Mantel aus, in kurzen roten Pants ist jetzt der Tänzer Sven Krautwurst zu erkennen. "Eine Ballade, mit der ich meine Mitmenschen um Verzeihung bitten möchte": Zum Rhythmus der Stimme von Klaus Kinski, unterlegt mit Elektronik-Pop, treffen die vier männlichen Tänzer Marcel Casablanca Martinez, Yusuke Inoue, Lorenzo Rispolano und Sven Krautwurst auf die drei Frauen Maria Adriana Dornio. Mamiko Sakurai und Clara Thierry. In wechselnden Konstellationen bewegen sie sich geschmeidig und kämpferisch über die Bühne, beschreiben große Tafeln mit Parolen ("schwul", "fick dich"). Unverblümt nicht nur die Worte, provokativ voller sexueller Anspielungen sind auch die tänzerischen Aktionen.
Durchaus besorgniserregend kommt eine Szene daher, in der alle sieben Akteure, jeder gehüllt in eine schwarze Burka, wild im Kreis tanzen. Zu sehen sind nur die nackten Beine, Männlein und Weiblein sind dabei nicht leicht zu unterscheiden. Die Verhüllung fällt, es bleibt ein Paar zurück: Es sind zwei Männer und die fünf anderen belegen das schwule Paar mit heftigen Beschimpfungen. Wieder steht ein gesellschaftliches Tabu im Mittelpunkt.
Der Dichter und Gauner Francois Villon hat sich in seinen Liedern mit derber Erotik nicht zurückgehalten, und dem Selbstdarsteller Klaus Kinski kommen die rotzigen Verse nur gelegen. Die Tänzer der Tanzkompagnie wollen nah an dieser Vorlage dranbleiben. So verwandelt sich in der "Marienballade" die Madonna schnell in eine Hure, und während die Ballade "Er war wie ich ein Bösewicht" zu hören ist, lässt Krautwurst den Tänzer Lorenzo Rispolano an der Leine durch den Raum taumeln. Direkt nebenan, getrennt nur durch ein bewegliches Bühnenelement, wird im Höllenfeuer ein wildes Gelage gefeiert. Zum Schluss steht Maria Adriana Dornio mit blankem Oberkörper da, und ihre männlichen Kollegen tragen auch nicht mehr viel am Leib. Choreograf Massimo Gerardi hinterfragt die gesellschaftlichen Ideale, indem er die Tänzer auf einem schmalen Grat zwischen Akzeptanz und Ächtung agieren lässt.
Doch rasch geht es weiter mit der nächsten Tanzszene, bei der auch einmal die sanften und fürsorglichen Töne gefragt sind.
"Seid, was ihr wollt", die Tänzer treten als Abschlusschor auf und sprechen gemeinsam die überarbeiteten Verse einer Villon-Ballade. Seid was ihr wollt. Diese Aufforderung ist Grundgedanke des Abends, und es bleibt die Frage: "Wie authentisch kann ich sein, wenn ich mit allem konform gehe?"
Ursula Hahn-Grimm, 03.06.2017, Gießener Anzeiger