Jeder hat wohl schon einmal in Gedanken durchgespielt, wie wohl sein Leben verlaufen wäre, wenn er sich an einem bestimmten Punkt anders entschieden hätte. Was wäre passiert, wenn er an einer Weggabelung die andere Richtung eingeschlagen hätte? Wäre sein Leben ganz anders verlaufen oder würde es dem heutigen ähneln? Hätte er andere Menschen kennengelernt, die ihm wichtig geworden wären? Davon handelt das raffiniert gebaute Zwei-Personen-Stück "Konstellationen" von Nick Payne, das eine moderne Liebesgeschichte in ständig neuen Variationen erzählt.
Payne ist ein Jungstar des englischen Theaters, dessen "Konstellationen" 2012 am Royal Court Theatre in London mit großem Erfolg uraufgeführt wurden. In bester britischer Bühnentradition verfügt er über ein sicheres Gespür für dramatische Effekte und überraschende Wendungen. Und er weiß, wie man ein Publikum allein durch Wortgefechte fesselt. All das zeigt sich in der gut 80-minütigen Inszenierung von Roman Kurtz, die am Donnerstagabend auf der taT-Studiobühne des Stadttheaters Premiere hatte. Es ist ein kurzweiliger, unterhaltsamer Theaterabend, bei dem die Stimmungen von einer Sekunde auf die andere kippen und so vielfältig wie das Leben selbst sind - mal amüsant, ausgelassen, albern und laut, mal still, traurig und bedrückend.
Es ist aber vor allem ein intensiver Abend, der den Zuschauern unter die Haut geht und der nur mit zwei hervorragenden Darstellern möglich ist. Und die hat Kurtz mit Kyra Lippler und Tom Wild gefunden. Sie spielt die Quantenphysikerin Marianne, er den Bio-Imker Roland, zwei scheinbar völlig konträre Charaktere, die sich auf einer Grillparty treffen. Damit nimmt eine Liebesgeschichte ihren Verlauf - doch hier muss man sagen: ihre Verläufe. Die Physikerin ist fasziniert von den unendlich vielen Möglichkeiten des Lebens in unendlich vielen Paralleluniversen. Diesen Gedanken greift der junge Dramatiker auf und lässt das Paar aus dem Topf der unendlichen Möglichkeiten einige durchspielen.
Im taT geschieht dies auf fast leerer Bühne; lediglich ein schwarzes, rundes Podest dient als Sitzgelegenheit (Bühne: Denise Schneider). Rundum sitzen die Zuschauer. Hoch oben über ihren Köpfen sind an zwei Stellen runde Bildschirme angebracht, auf denen man zu Beginn zum Beatles-Song "Across the universe" ins Weltall blickt. In der Mitte dreht sich die kleine weiße Figur eines Astronauten, kommt immer näher, wird größer - und ist schließlich als Imker in Imker-Schutzkleidung zu erkennen.
Höchste Konzentration
Kyra Lippler und Tom Wild müssen sich als Paar durch einige Universen hindurch an verkorksten Anfängen und scheuen Konversationsversuchen vorbeimanövrieren, um zum eigentlichen Kern ihrer Geschichte vorzustoßen. Ihnen wird dabei höchste Konzentration abverlangt, denn die kurzen, schlaglichtartigen Szenen brechen plötzlich ab und eine neue - in einer völlig anderen Stimmungslage - beginnt. Die Szenen variieren nur leicht, die Sätze sind oft die gleichen, aber der Ausgang ist jeweils verschieden. So viele Möglichkeiten bietet das Leben eben.
Schon bei der Grillparty ist der eine mal mit, mal ohne Partner. Sie nimmt ihn mit nach Hause; mal schickt sie ihn wieder fort, mal lässt sie ihn ins Bett. Er hält ihr einen Vortrag über die Honigbiene und macht ihr dabei einen Heiratsantrag. Seine Rede, die im Satz gipfelt: "Wenn auch unser Leben so einfach wäre", liest er stockend vom Zettel ab. Ein anderes Mal hat er den Zettel verschlampt, und wieder ein anderes Mal improvisiert er und verdreht alles. Es genügt nicht, dass die Darsteller blitzschnell umschalten müssen, um eine völlig andere Atmosphäre glaubhaft erscheinen zu lassen, Kyra Lippler muss in einigen Szenen auch eine vom Tode gezeichnete Frau spielen, die Worte verdreht und Schwierigkeiten hat, sich sprachlich richtig auszudrücken. Doch sie und ihr Bühnenpartner Tom Wild sind in jedem Augenblick auf der Höhe und machen diesen Abend zu einem perfekten Theatererlebnis. So sah es auch das Premierenpublikum, das lang und herzlich applaudierte.
Thomas Schmitz-Albohn, 07.01.2017, Gießener Anzeiger