Alles Gute kommt von oben - Gießener Anzeiger
18.11.2021

Aschenputtel-Neufassung als Familienstück im Stadttheater

Wer schon lange nicht mehr Gelegenheit hatte, eine gedruckte Ausgabe der Brüder Grimm in die Hand zu nehmen, dürfte sich verwundert die Augen reiben. Denn es geht in manchen Momenten tatsächlich richtig zur Sache in dieser Geschichte vom gutherzigen Aschenputtel, das sich einer bösen Stiefmutter und einer gemeinen Stiefschwester erwehren muss – und am Ende doch noch den Prinzen für sich gewinnt.

Jetzt hat sich das Stadtheater Gießen dieses Märchen-Klassikers angenommen. Für das neue, wie stets in der Vorweihnachtszeit auf den Spielplan gesetzte Familienstück (ab sechs Jahren) wählte Regisseur Patrick Schimanski die behutsam modernisierte Fassung von Catharina Fillers und Stefanie Schnitzler, in der sich manche aktuelle Bezüge finden, es mit den garstigen Widersacherinnen nach 60 wendungsreichen Minuten Spielzeit dennoch ein schlimmes Ende nehmen wird. Dem Spaß der jungen Theatergänger tut das aber keinen Abbruch. Strafe muss sein – das ist auch für dieses Premierenpublikum wahrlich nichts Neues.

Neu ist hier aber vor allem die Rolle der beiden (wie alle Rollen doppelt besetzten) Tauben. Die helfen dem zunehmend verzweifelten, man könnte auch sagen: gemobbten Aschenputtel nicht nur wie ehedem dabei, Linsen und Erben so zu sortieren, dass die »guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen« kommen. Die beiden Tauben ziehen in dieser Geschichte auch mehr und mehr die Regie an sich.

Mobbingopfer

Die gefiederte Hilfe hat das Mädchen (Paula Schrötter/Vanessa Wirth) aber auch dringend nötig. Denn nach dem Tod ihrer geliebten Mutter zieht eine neue Frau beim Vater ein, die auch gleich noch ihre Tochter mit ins Haus bringt. Eine Patchwork-Familie also – aber eine ohne jeden Zusammenhalt. Denn das durchtriebene Gespann botet das Aschenputtel beim Vater aus und sorgt dafür, dass es bis zur Erschöpfung im Haushalt schuften muss, fortan in Lumpen herumläuft und auch die Einladung zum Prinzenball nicht erhält. Doch zum Glück sind da ja noch die Tauben.

Die erhalten in der Inszenierung Schimanskis einen prominenten Platz. Zunächst in einem prächtigen, im Bühnenhintergrund schwebenden Nest (Bühne: Lukas Noll), von dem aus die Spielszenen aus begleitet und kommentiert werden. Später dann auch mehr und mehr von vorne auf der Rampe, wo sie Aschenputtel zur Seite stehen und ihr die Faszination des Fliegens nahebringen. Und schließlich auch, wenn sie den Weg der bösen Frauen zum Ball mit Taubenkacke pflastern. Alles Gute kommt von oben.

Überhaupt sehr interessant sind hier die Abweichungen von der Grimm’schen Märchenhandlung. Der Prinz (Magnus Pflüger/Pascal Thomas) etwa hat keine Lust, die Herrschergeschäfte des Vaters zu übernehmen: »Prinz sein ist hart. Soll ich es einfach lassen?«, fragt sich der junge Mann, der offenbar kein sonderliches Verlangen nach der Macht hat. Auch das steife Tanzen, das ihm ein barocker Ausbilder beizubringen versucht, findet er »uncool«. Neugierig wird er hingegen auf das ihm unbekannte Mädchen, das ihn nicht wie die anderen dümmlich umschwärmt, sondern auf Augenhöhe begegnet und überdies zeigt, wie richtig getanzt wird. So werden hier die Rollenmodelle der Figuren modernisiert, ohne den Charakter der Vorlage zu unterlaufen.

Hinzukommen all die Elemente, die eine rundum gelungene Familieninszenierung ausmachen. Gewitzte Sprüche, eingängige Musik, überraschende Effekte. Und natürlich ein herzerwärmendes Happy End – während wir über das schmerzhafte Schicksal der beiden bösen Frauen an dieser Stelle kein weiteres Wort verlieren wollen. Sind schließlich selber schuld.

In weiteren Rollen: »Stephan Hirschpointner/Sebastian Songin, Johanna Malecki/Anne-Elise Minetti, Roman Kurtz/Tom Wild.


Björn Gauges, 18.11.2021, Gießener Anzeiger