Anbiederung an den Zeitgeist - Gießener Anzeiger
06.09.2021

Die Kammeroper „The Rape of Lucretia“ von Benjamin Britten eröffnet die aktuelle Spielzeit im Gießener Stadttheater. Das Ergebnis fällt zwiespältig aus.

Nach Monaten der durch Corona erzwungenen Enthaltsamkeit war die Vorfreude beim Publikum naturgemäß groß, dass nun endlich wieder Theater gespielt und Theater hautnah erlebt werden kann. Die sehnlichst erwartete Spielzeiteröffnung am Berliner Platz hinterlässt allerdings einen zwiespältigen Eindruck, denn die Inszenierung der Kammeroper "The rape of Lucretia" von Benjamin Britten ist leider nicht aus einem Guss geraten.

So wirkt im ersten Teil manches ungelenk, oberflächlich und überfrachtet, und beim Zuschauen wird man den Verdacht nicht los, dass die Regie im Zuge der #MeToo-Debatte vielleicht zu viel gewollt hat. Erst nach der Pause gewinnt der etwa zweistündige Opernabend an Intensität und Durchschlagskraft, was vornehmlich der musikalischen Ausgestaltung sowie den hervorragenden Leistungen der Gesangsdarsteller zuzuschreiben ist. Das Premierenpublikum, in dem man in der Pause hier und da ziemlich ratlose Mienen sah, zeigte sich am Ende aber doch versöhnt und dankte allen Beteiligten mit herzlichem Applaus.

In seiner 1946 entstandenen Oper "The rape of Lucretia" beschränke sich Benjamin Britten (1913 - 1976) auf einen Rahmen, wie er etwa den Komponisten des 18. Jahrhunderts zur Verfügung stand: Acht Protagonisten auf der Bühne, ein gutes Dutzend Musiker und ein Dirigent - mehr brauchte er nicht, um die Geschichte von der Vergewaltigung der treuen und tugendhaften Lucretia zu erzählen. Um die aus der römischen Frühzeit überlieferte Begebenheit dem zeitgenössischen Publikum nahezubringen, führte er zwei Erzähler (Sopran und Tenor) ein, die das Bühnengeschehen in der Rolle des antiken Chores als "Female Chorus" und "Male Chorus" begleiten und kommentieren.

Von einer Reduzierung auf sparsamste Mittel, wie sie dem Komponisten vorschwebte, ist das üppige Bühnenbild von Lukas Noll weit entfernt. Er schuf auf der Drehbühne mehrere Räume, die Lucretias Schlafzimmer, den Ort der Vergewaltigung, in jeweils leichter Abwandlung zeigen; dazu hohe Fenstern sowie Wände und Vorhänge in Schwarzweiß mit geradezu überbordenden Ornamenten. Inmitten dieser Umgebung sieht man Lucretia in rosafarbenen Gewändern, wie sie sich die meiste Zeit den runden Bauch hält und zusammen mit Bianca gymnastische Dehnungen mit Atemübungen für die baldige Niederkunft vollführt. Regisseur Christian von Götz hat ihr nämlich, über Brittens Vorlage hinausgehend, eine Schwangerschaft angedichtet. Davon verspricht er sich offenbar eine stärkere Wirkung, denn bei ihm verliert Lucretia bei der Vergewaltigung ihr ungeborenes Kind, was die Scheußlichkeit der Tat also um ein Vielfaches steigert.

Widerwärtige Männer

Das Publikum ist Zeuge, wie die wilde, testosterongesteuerte Männergesellschaft im Feldlager säuft, kotzt und hurt. Der betrunken schwankende Kronprinz Tarquinius und seine Getreuen tragen schwarze Kluft wie die Mitglieder einer Nazi-Sportgruppe. Eines der stärksten und eindrücklichsten Bilder der Inszenierung ist, wenn Tarquinius mit einer übergroßen Kopfmaske in Gestalt einer dunklen, unheimlichen Tiergottheit auf dem Thron ruht, während ihm zu Füßen alle Frauen hingebungsvoll in Ohnmacht fallen.

Missglückt, weil widersinnig und auch unfreiwillig komisch, muss man jene Szene nennen, in der Bianca und Lucia nach der Vergewaltigung in der Nacht vor dem blutgetränkten Bett stehen: Sie beginnen damit, es neu zu beziehen und singen dabei: "Was für ein lieblicher Tag, was für ein schöner Morgen." Ziemlich aufgesetzt und anbiedernd-zeitgeistig wirkt auch der Einstieg in den Opernabend, bei dem die beiden Erzähler mehrere Lucretia-Fotos auf eine hohe Wand mit der Aufschrift "We are Lucretia" pinnen.

In den Händen von Generalmusikdirektor Florian Ludwig entfaltet sich der ganze Nuancenreichtum dieser aufwühlenden, expressiven Musik. An vielen Stellen kommt Brittens Meisterschaft der psychologischer Schilderung aussagekräftig zum Ausdruck, so wenn nur das Schlagzeug den Ritt des Tarquinius nach Rom untermalt oder wenn sich in der Geständnisszene am Schluss die Instrumentation zu großer Eindringlichkeit verdichtet. Überhaupt täuscht die orchestrale Klangfülle zuweilen darüber hinweg, dass im Orchestergraben nur 14 Musiker agieren.

Nur 14 Musiker

Gesungen wird auf einem außerordentlich hohen Niveau. Da sind zunächst die Sopranistin Anna Gabler und der Tenor Bernhard Berchtold, die als Erzähler die Handlung kommentieren und vorantreiben. Beide ergänzen sich ideal. Über das Bühnengeschehen hinaus gelingt es sowohl Bernhard Berchtold mit betont sachlicher, schnörkelloser Stimme als auch Anna Gabler mit immenser Emotionalität, die innere Dramatik der Vorgänge zu beleuchten. Evelyn Krahe zeigt eine ein wenig traumverlorene Lucretia, die wohlbehütet in einer rosaroten Gefühlswelt dahinlebt. Ihr Alt strahlt gleichsam sinnliche Wärme und Seligkeit aus. Zum Ende hin schwingt sie sich zu leidenschaftlicher Höhe empor, indem sie dem Schmerz der geschändeten Frau mit großer Innigkeit Ausdruck verleiht. Mit seinem virilen, kraftvoll vorwärtstürmenden Bariton verkörpert Grga Peroš den Vergewaltiger Tarquinius, dessen Rolle er mit sehr viel Elan ausfüllt. Auch Kay Stiefermann (Bariton), der als General Junius blind herumtapsen muss, und Christian Tschelebiew (Bass) lassen durch ihre kraftvollen Auftritte aufhorchen. Mädchenhaften Liebreiz verströmt Anna Magdalena Rauer als Lucia mit ihrem glockenklaren Koloratursopran, und Sofia Pavone bringt als Amme Bianca ihren wandlungsfähigen Mezzosopran zur Geltung.


Thomas Schmitz-Albohn, 06.09.2021, Gießener Anzeiger