Antiheld allein zuhause - Gießener Anzeiger
05.07.2022

Schauspieler Magnus Pflüger überzeugt in seiner letzten Rolle als Gießener Ensemblemitglied - als letzter Mensch, der von Maschinen gesteuert wird.

Mensch und Maschine: Ein ständig wiederkehrendes Thema - aktueller denn je. Das Stadttheater hat sich dazu mit »Wonderland Ave.« einer Vorlage von Erfolgsautorin Sybille Berg angenommen: Kirsten Eschner führte Regie, die Ausstattung stammt von Nadezhda Pavlova. Den verdienten Applaus nahm Ensemblemitglied Magnus Pflüger entgegen, der 75 Minuten lang eine schauspielerische und konditionelle Glanzleistung präsentierte

Die letzte Premiere in dieser Spielzeit verlegte das Stadttheater an einen besonderen Spielort. Die sogenannten »Specific spaces« werden gern im Rahmen des TanzArt Festivals genutzt, aber ebenso gut passen sie für ein Schauspiel. Neue Orte schaffen neue Sichtweisen. In diesem Fall war der Spielort das leerstehende Geschäftshaus Seltersweg 85, wo früher einmal die Ferbersche Universitätsbuchhandlung untergebracht war, anschließend ein Mode-Filialist, jetzt will der Bauunternehmen Faber und Schnepp das Gebäude umbauen und ein Wohn- und Geschäftshaus etablieren. Vor Beginn der Bauarbeiten gab das Unternehmen das Haus für die Theateraufführung frei und unterstützt das Projekt auch finanziell.

Shoppen, Sponsoring, freie Marktwirtschaft, all das gibt es in Sybille Bergs Dystopie nicht mehr. Die Konsumenten und User hatten es in ihrem Optimierungsdrang offensichtlich zu weit getrieben, der Mittelstand hat sich selbst abgeschafft. Auch Arbeitsplätze werden jetzt nicht mehr benötigt. Zurückgeblieben sind traumatisierte Einzelgänger, die von Robotern kommandiert und gesteuert wurden. Die Maschinen haben die Macht übernommen, die Menschen haben sie ihnen widerstandslos überlassen.

Wie konnte es soweit kommen?, sinniert einer der letzten Überlebenden der menschlichen Rasse (Magnus Pflüger) in seiner neuen Unterkunft vor sich hin. Er wohnt jetzt in anonymen Räumen, die ebenso eine Wellness-Oase als auch eine Obdachlosenunterkunft sein könnten. Die halb eingerissenen Geschäftsraume mit der abgeschalteten Rolltreppe passen genau zu diesem Setting: es ist die Kulisse zum Untergang.

Den Nerd, der sich in diesen Räumen aufhalten muss, spielt Magnus Pflüger, mit Power, Zorn, Frust und Melancholie in Erinnerung an das zurückliegende Leben. Früher gab es Liebe und Emotionen, Kontakte (auch wenn diese meist aus Konkurrenz bestanden) und Kultur. Sehnsüchtig umarmt der Protagonist eine Gummipalme, streichelt über Blätter aus Plastik. Doch lange Zeit hat nicht er zum Grübeln, die Roboter treiben ihn an: aufstehen, frühstücken, Ausdauersport. Wenn es zu lange dauert, setzt es auch schon mal Elektroschocks. Doch zwischendrin gibt es auch kurze philosophische Erörterungen.

Maschine aus dem Lautsprecher

Die Uraufführung der »Wonderland Ave.« von Sibylle Berg fand 2018 in Köln statt, die Roboter wurden in den meisten bisherigen Inszenierungen von Schauspielern dargestellt. Eine durchaus geschickte Lösung hat sich nun Kirsten Eschner in ihrer ersten eigenen Regiearbeit zusammen mit Dramaturgin Carola Schiefke einfallen lassen: Auf der Bühne sind nur die blechernen Stimmen der Maschinen aus einem großen Lautsprecher zu hören. Umso mehr ist die Leistung von Magnus Pflüger zu würdigen, der praktisch eine Solonummer von über einer Stunde Länge zu bewältigen hat, unterbrochen nur von Computerstimmen.

Zum Textvortrag kamen noch die Übungen des Ausdauersports, Training an Fitnessgeräten sowie eine Dusche im Planschbecken. In der Disziplin »Zweikampf« drischt er gnadenlos auf ein paar Papier-enten ein, auch als die schon längst zerstört sind. Herzergreifend glaubwürdig ist diese Darstellung eines erbarmungswürdigen Menschen, der trotz aller Schwächen die Sympathien des Publikums auf seiner Seite hat. Zum Schluss gewinnt er im Optimierungskampf den ersten Preis und darf den Maschinen seine Vorstellungen vom sinnvollen Leben vortragen. Eine Wohnung, in der in jedem Zimmer ein großer Plasmabildschirm steht, dazu Videospiele und kostenloses Flatrate für das Handy. Das ist alles, was unserem Antihelden zum selbsterfüllten Leben einfällt.

Pflüger, seit der Spielzeit 200018/19 als festes Ensemblemitglied am Gießener Stadttheater tätig, war in zahlreichen vielbeachteten Stücken zu sehen, darunter »Romeo und Julia«, »Riobar«, »Bookpink«. . Mit Ende dieser Spielzeit wird er das Haus verlassen, ebenso wie Dramaturgin Carola Schiefke.


Ursula Hahn-Grimm, 05.07.2022, Gießener Anzeiger