Assam lässt es nochmal krachen - Gießener Allgemeine Zeitung
07.06.2022

Das TanzArt ostwest-Festival startete durch. Eine Rolltreppen-Performance im Neustädter, zwei Vorstellungen auf der taT-studiobühne am Freitag und je eine Spätvorstellung am Samstag und Sonntag, dazu eine Abendveranstaltung auf der großen Bühne des Stadttheaters, bevor am Pfingstmontag die Gala folgte. Ballettdirektor Tarek Assam ließ es mit seinem letzten TanzArt ostwest-Festival noch einmal richtig krachen.

 

Der Pfingst-Sonntagabend war - zum ersten Mal im Großen Haus - den »Next Generations« gewidmet. Von den angefragten Akademien, konnten sieben eine Zusage geben. Einige von ihnen waren schon in den Jahren zuvor dabei, auf der kleinen Studiobühne. Dazu gehören die Ausbildungsstätten aus Prag, Ljubljana und Zürich. Zum ersten Mal kamen Vertreter aus Paris, Den Haag und vom Folkwang Tanzstudio in Essen, letztere sogar mit einem Ausschnitt aus ihrer jüngsten Premiere »Wonderful Life«. In seiner Moderation wies Tarek Assam darauf hin, dass alle Schulen verschiedene Tanzstile unterrichten, seit Jahren aber auch Gastchoreografen holen, um das Spektrum zu erweitern. Sämtliche Leitungspersonen der Profi-Tanzschulen waren angereist, eine große Ehre und Freude wie Assam sagte.

Die Drei vom Balletto Castelfranco aus Venetien waren schon beim »Winner«-Abend im taT mit Soli vertreten; hier erzählen sie eine typische Dreiecksgeschichte zwischen zwei Männern und einer Frau. Das umgekehrte Verhältnis, ein Mann hat eine Geliebte und seine Ehefrau leidet, hatten die Prager inszeniert. Dabei war der Titel »Käfig« optisch mit Reifröcken dargestellt und erwischte am überraschenden Ende den Mann.

Bei der Anreise aus Paris hatte sich die Choreografin und Tänzerin Rachele Pinzan verletzt, das Duett wurde kurzerhand in ein Solo für die Partnerin umgewandelt; ein intimes Stück, das besser auf eine kleine Bühne gepasst hätte. Bauchweh und Menstruation, ziehendes Begehren im Unterleib, soviel ließ sich aus dem reduzierten Tanz ablesen.

Begeisterung rief das Stück aus Zürich hervor. Alle elf Tänzer und Tänzerinnen waren in schwarzglänzende, hautenge Ganzkörperanzüge gehüllt, nur Hände und Gesichter leuchteten hell, was auch visuell genutzt wurde. Die Gruppe bewegte sich oft wellenförmig, schnelle Isolationsbewegungen einzelner Körperteile erzeugten flirrende Momente.

Rosanna Hribar war schon mehrmals bei der Tanzcompagnie Gießen zu Gast, an diesem Abend zeigte sie das fröhliche Ergebnis einer »Forschungsarbeit« zur gegenseitigen Beeinflussung von Tanz und Musik. Die Tänzerinnen ließen sich vom Rhythmus bewegen, der Musiker bediente zunächst das Löffelspiel, dann eine große Trommel, mit der er das Tempo steigerte. Aus Den Haag kam ein weibliches Duo, das zum Heavy-Metall-Sound von Radiohead die Verwandlung vom Miteinander zu Streit zeigte. Den »Wonderful Life«-Abschluss bildeten die 14 vom Folkwang-Tanzstudio, die sich von der tiefen Stimme Nadjy Mladjaos tragen ließen, die drei bekannte Pop-Songs interpretierte. In Pina-Bausch-Tradition bleiben sie versprengte Einzelpersonen, wodurch zwar vielfältige Bewegungen zu sehen waren, der Gesamteindruck aber etwas beliebig war (Choreo: Rodolpho Leoni).

Tanz auf und mit Rolltreppen

Die Performance der Compagnie (Cie.) Irene K. fand auf der Fläche zwischen den Rolltreppen im Einkaufszentrum Neustädter statt. Viele Augen folgten den beiden Paaren, die sich begegneten und beschwingt miteinander tanzten, zwei von ihnen fuhren auch mit der Rolltreppe hoch und wieder runter, dabei zwischen den Passanten agierend, die das manchmal gar nicht bemerkten oder interessiert zuschauten

Die Abende auf der taT-Studiobühne waren kontrastreich. Am Freitag präsentierten sich die Gewinner internationaler Tanzwettwerbe mit Soli (Sara Verrochio, Frederico Rubisse, Denise Martignon, Arianna Bianchini). Ungewöhnlich war das Duo Noemi della Vecchia und Matteo Vignali, die ein Tanzstück über Alltäglichkeiten performten: Wachwerden, Wasserrauschen, Duschen, Frühstück und einem verschlafenen Partner gegenübersitzen. Das Einander-Näherkommen geschah in drastischer Direktheit. Hingegen entführten die Schwestern Ifigeneia und Ariadni Toumpeki in ein Zauberland: sie nähern sich als kriechende Wesen mit netzverhülltem Kopf, denen zum wunderschönen Barockgesang von Bobby McFerrin der aufrechte Gang gelingt.

Das Solo »Naj« von Agnieszka Jachym, TCG-Mitglied 2014-17, war bis zum Schluchzen traurig gestimmt. Der in Gießen schon häufiger gastierende Paul Julius, seit 2021 Mitbegründer und Leiter der Japan Contemporary Dance Company, kam mit zwei Tänzerinnen, die ein abstraktes, zwischen Neoklassik und Contemporary angesiedeltes Stück zeigten. Ein energiegeladenes Stück bot die Compañia (Cia.) Marroch aus Spanien. Melodia Garcia und Salvador Rocher nutzen Techniken des Breakdance für ihr »Entre Nosotros« (Unter uns). Ausgesprochen gut gelaunt wetteiferten sie in schwierigsten, gegenseitigen Balance- und Hebefiguren.

In der Samstag-Spätvorstellung beeindruckte die fünfköpfige Cia. Atacama war auf der Suche nach dem »Tanz der Realität«. Das kontinuierliche Laufen eines Beteiligten ließ sich von den anderen kaum bremsen, interessante Ideen (Choreo: Patrizia Cavola, Ivan Truol).

Am späten Sonntagabend war zunächst ein Duo von Tanz Nordharz zu erleben, das eine in Herbstfarben getauchte, naturverbundene Choreografie des bisherigen Leiters Can Arslan zeigte. Das folgende Stück des Choreografen Ioannes Mandafounis hat seine Längen, er behandelt das Thema Erzählung versus Abstraktion im Tanz. Die unermüdliche Manon Perant, am Flügel begleitet von Gabriele Carcano, lässt sich von der klassisch-dramatischen Musik inspirieren, scheint bald genervt zu sein, zieht sich Verletzungen zu, versucht das Publikum lächelnd miteinzubeziehen und bietet Schokolade an, bevor sie ihre traurige Geschichte mit Worten erzählt.

Applaus will nicht enden

Fulminant war der letzte Beitrag. Fünf Mitglieder des Tanztheaters Braunschweig agieren zu teils heftiger Rock-Musik zwischen Traum und Realität (Choreo: Matyas Ruzsom). Eine ausgefeilte Lichtregie (Respekt an die taT-Techniker!) suggeriert Fantasiewelten und das Werfen eines hellgrauen Granulats sorgt für temporeiche Action-Stimmung. Nicht enden wollender Applaus.


Dagmar Klein, 06.06.2022, Gießener Allgemeine Zeitung