In Gefühlswelten abtauchen - Gießener Anzeiger
27.09.2021

Die aus der Antike stammende Geschichte erzählt Tarek Assam mit vielen Bezügen zur Jetztzeit. Immer wieder taucht eine Chronistin mit Brille und Tablet auf. In diversen Soli werden die Gefühlslagen der Hauptpersonen ausgelotet.

„Elektra“ – die erste große Tanzpremiere seit Don Juan im Februar 2020, kurz vor dem ersten Lockdown. Die Aufregung bei der Tanzcompagnie Gießen dürfte nach anderthalb Jahren entsprechend groß gewesen sein. Ein Großteil der neuen Choreografie von Ballettdirektor Tarek Assam wurde unter Pandemievorgaben einstudiert, also nur paarweise und in Kleingruppen mit Abstand. Die ersten Proben in Gesamtgruppe sind noch gar nicht so lange her.

Wer darauf achtet, dem könnte manchmal auffallen, dass sich die Tanzenden nicht direkt anschauen und nur von hinten umarmen, viele Szenen parallel laufen. Aber wirklich auffällig ist es nicht. Es ist eine atmosphärisch dichte Inszenierung, in die man sich fallen lassen kann, was sich auch Patrick Schimanskis durchgängiger Soundkulisse verdankt. Diese ist eine Komposition von Geräuschen, Stimmfetzen und kurzen Einlagen diverser Musikinstrumente. Wie im Kino.

Das Bühnenbild von Annett Hunger ist so schlicht wie vielfältig nutzbar: Metallstangen, die im Halbrund den Bühnenraum abgrenzen, zugleich durchlässig sind und beim Gegeneinanderschlagen lautes Klirren und Scheppern verursachen können. Das atmosphärische Licht (Luigi Kovacs) changiert von warmer Abenddämmerung über Blutrot in den Mordszenen bis zu gleißend kalt bei Rachegefühlen. In den Kostümen hat Annett Hunger antike Gewänder in die Jetztzeit geholt, kombiniert auf asymmetrische Weise lang fließende Halbröcke oder weite Hosen mit kurzen Kleidern und raffinierten Oberteilen.

Zu Beginn wird das Publikum mit dem unverwandten Blick der Elektra-Tänzerin Madeleine Salhany konfrontiert (Video Martin Przybilla). Ihr Gesicht ist auf den sich hebenden Vorhang projiziert, darunter wabert der Bühnennebel, in dem sich die mit Kapuzen getarnten Tänzer und Tänzerinnen kriechend vorwärtsbewegen. Der Sound klingt bedrohlich, immer mal wieder kracht es wie Gewehrsalven, Einzelne fallen getroffen auf den Rücken. Die Soldaten auf dem Schlachtfeld und bei der Flucht heimwärts.

Das Willkommen für den Heerführer Agamemnon ist zweigeteilt: seine Tochter Elektra freut sich, seine Frau Klytämnestra lehnt ihn ab. Sie hat während des jahrelangen Krieges in Aegisth einen neuen Partner gefunden. Die beiden töten Agamemnon in der intimen Situation des Bades, was Elektra mitbekommt. Entsetzen und Trauer schlagen bei ihr um in Rachegefühle, die sie mit ihrem Freund Orest in die Mordtat umsetzt. Der Fluch, der seit Generationen über der Familie liegt, setzt sich bei ihr fort. Trauer muss Elektra tragen, wie der Stücktitel in der Bühnenversion von Eugene O’Neill heißt.

Die aus der Antike stammende Geschichte erzählt Tarek Assam mit vielen Bezügen zur Jetztzeit. Immer wieder taucht eine Chronistin mit Brille und Tablet auf. In diversen Soli werden die Gefühlslagen der Hauptpersonen ausgelotet. Agamemnon wird zum traumatisierten Kriegsveteranen, der von Alpträumen gequält wird. Er steht innerlich immer noch auf dem Schlachtfeld, tötet mit dem Gewehr. Er wird verkörpert von Giovanni Fumarol, der über große Sprungkraft verfügt und eine spezielle Art der schnellen Bewegung einzelner Körperteile entwickelt hat. Als Klytemnästra hat Magdalena Stoyanova mehrere große Auftritte, gibt die kühle Herrscherin, die verführerische Frau und aktive Mörderin. Ihr zur Seite Floriado Komino als treuer Aegisth. Michael D’Ambrosio gibt den leichtfüssigen und flinken Orest, der seine Freundin Elektra beim Doppelmord unterstützt.

Während des gesamten Stücks wird mit blutverschmierten Äxten als Symbol der direkten Gewalt auf einen Holzklotz geschlagen. Madeleine Salhany als verzweifelte Elektra haut schließlich auch auf den Metallstangenvorhang ein, das ist wie ein gigantischer Protestschrei gegen die Einengung durch gesellschaftliche Vorgaben. Am Ende ist sie allein, ihr innerer Monolog wird durch einen zusätzlichen kleinen Kreis aus Metallstäben visualisiert. Das Schlussbild: Elektra steht im Bad und wäscht sich im Stehen, während die Gesellschaft außerhalb des Metallstangen-Halbrunds immer lebhafter wird. Eine kommt nach vorn und filmt die Badende mit dem Tablet, teilt diese Aufnahme anschließend mit den anderen. Niemand hilft Elektra, alle starren nur auf ihre Displays und kommentieren lautstark. Ein nachdenklich stimmender Transfer ins Heute.


Dagmar Klein, 27.09.2021, Gießener Anzeiger