Aus dem Vollen geschöpft - Gießener Allgemeine Zeitung
10.11.2021

Es ward Licht. Haydns »Schöpfung« wird im Stadttheater zu einem opulenten Ereignis. Dirigent Jan Hoffmann formt Orchester, Chöre und Solisten zu einer stilvollen Einheit.

Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde«, erzählt Erzengel Raphael. Doch so einfach ist es nicht. Bekanntlich herrscht ganz am Anfang Chaos, aus dem zunächst der Kosmos entsteht. Joseph Haydn siedelt daher sein Oratorium »Die Schöpfung« zu Beginn in der unendlichen Weite des Nichts an. Das Vorspiel nimmt sich Zeit und Raum. Haydn, während der dreijährigen Kompositionsdauer bereits Mitte 60 und als Großmeister der musikalischen Ordnung bekannt, legt sich hier, wenn er die Unordnung des Alls beschreibt, mit sich selbst an.

Für heutige Ohren klingt das Ganze freilich nur nach moderatem Chaos, das sich insgeheim der Sonatenform verpflichtet fühlt. Die Leere hört im Orchester unisono auf ein C. Schon tauchen am geistigen Firmament Dämmerlicht, Dissonanzen und Schemen auf. Nach pulsierenden und aufbrausenden Momenten endet die Ouvertüre erhaben in würdigem c-Moll.

Ensemble im Großformat

Erst danach betritt Raphael per Bassstimme mit seinem Rezitativ die Szenerie und der Chor lässt es in feierlichem C-Dur auf der Erde Licht werden. Zu hören am Dienstagabend beim Sinfoniekonzert des Stadttheaters, in dem der stellvertretende Generalmusikdirektor Jan Hoffmann das beliebte Haydn-Oratorium aufführte. Dafür gab es am Ende Bravorufe und lang anhaltenden Applaus des begeisterten Publikums.

Das Konzert ist im Großen Haus dem Anlass entsprechend opulent angelegt. Neben dem Philharmonischen Orchester Gießen finden sich auf der Bühne die Wetzlarer Singakademie, der Gießener Konzertverein, der Opernchor des Stadttheaters und drei Solisten. Die Chöre treten nach zwei Jahren erstmals wieder gemeinsam auf mit ihrem feierlichen Lobgesang auf die »Wunder der Natur«.

Haydn, von den Oratorien Händels inspiriert, kreiert eine Musik, die dem Bilderreichtum der Vorlage Rechnung trägt. Neben der Heiligen Schrift sind das Sentenzen aus »Paradise Lost« von John Milton. Entstanden ist ein Werk, das bei seiner Uraufführung 1798 für Furore sorgte.

Die Erzengel Raphael, Uriel und Gabriel skizzieren die sechs Tage der Schöpfung. Statt des siebten Tags wirft Haydn einen Blick ins Paradies und lässt Adam und Eva zu Wort kommen.

Der erste Part widmet sich neben der Erschaffung des Lichts auch den Themen Erde und Himmelskörper, Wasser und Wetter sowie den Pflanzen. Danach treten Tiere und Menschen auf den Plan. Der letzte Abschnitt spielt im Garten Eden.

Haydn serviert dem Ohr so einiges zum Wiedererkennen, bisweilen auch mit einer Prise Humor. Die Palette reicht vom leuchtenden Sonnenaufgang über einen wie meliert wirkenden Mond bis hin zu Tierstimmen, weshalb die liebreizende Nachtigall sicher auch einen Udo Lindenberg erfreut hätte.

Dirigent Hoffmann führt sein vielköpfiges Ensemble mit Bedacht und manchmal auch ein wenig bedächtig durch die Partitur. Er nimmt sich Zeit zum Ausformulieren, lässt Stimmungen wirken und hebt wichtige Passagen hervor, um zum jeweiligen Finale der drei Teile im Tutti das Tempo anzuziehen.

Koloraturen wie im Flug

Das Orchester präsentiert sich in Spiellaune, die Bläser sind wie immer eine Bank, die Streicher arbeiten mit Nachdruck. Der Chor singt schwärmerisch, gut austariert, als prächtige Einheit.

Naroa Intxausti verleiht Erzengel Gabriel und der Eva Substanz. Ihr schlanker Sopran strahlt zu Beginn des zweiten Durchgangs, wenn sie sich in ihrer Arie den Vögeln widmet. In edlen Koloraturen fliegt Intxausti hinauf in die höchsten Höhen.

Tenor Bernhard Berchtold meistert den Uriel wohlartikuliert und mit bester Textverständlichkeit. Seine Arie »Mit Würd und Hoheit angetan« glänzt. Jochen Kupfer gibt dem Raphael Format. Der Bassbariton zeigt in der Höhe Präsenz und wirkt in den Tiefen abgründig sicher. Ein Solist von Rang. Als Adam lässt er der Eva von Intxausti gentlemanlike den vokalen Vortritt. Sora Winkler steht am Schluss in einem kleinen Alt-Solo mit vorn auf der Bühne.


Manfred Merz, 10.11.2021, Gießener Allgemeine Zeitung