Das Kreischen des Krieges im Kopf - Gießener Allgemeine Zeitung
14.10.2021

Die Kammeroper »Krieg. Stell dir vor, er wäre hier« nach dem gleichnamigen Buch von Janne Teller hatte in der taT-Studiobühne Premiere. Ein in vielerlei Hinsicht durchaus anstrengender Theaterabend.

Der Krieg ist laut. Er schreit, kreischt und macht Angst. Bariton Viktor Rud vermittelt dies als »Bellum« zu Beginn der Kammeroper »Krieg. Stell dir vor, er wäre hier« mit großer Intensität. Seine Stimme schraubt sich im Strahl der Taschenlampe in schrille Höhen, um dann mit grausamer Kraft in die Tiefen hinabzustürzen. So klingt wohl der Krieg.

Aber was wäre, wenn der Krieg nicht in einem fernen Land passiert und Flüchtlinge zu uns nach Europa strömen, sondern sich die Menschen direkt vor unserer Haustür, in unserer Nachbarschaft die Köpfe einschlagen und wir selbst flüchten müssen? Diesen längst überfälligen Perspektivwechsel vollzieht die dänische Autorin Janne Teller in ihrem Essay »Krieg. Stell dir vor, er wäre hier« und sie hat auch das Libretto für die gleichnamige Kammeroper mit Musik von Marius Felix Lange geschrieben.

Expressiver Gesang trifft auf Orient

Gedacht ist die Oper für Jugendliche ab 14 Jahren, doch ob das angesichts der Komplexität der expressiven, aber auch sperrigen Musik auch tatsächlich das passende Zielpublikum ist, scheint zumindest zweifelhaft. Lange lässt von einem Streichorchester (Delia Ramos Rodriguez, Mishi Stern/Veronika Paleeva, Nefeli Galani und Aleksander Zhibaj, dirigiert von Ex-GMD Herbert Gietzen) arabische Tonfolgen und zeitgenössische westliche Tonsprache zu einem in sich stimmigen Gesamtklang spielen. Den Sängern (neben Bariton Rud ist das Sopranistin Naroa Intxausti) fordert er viel ab, die Musik bewegt sich hart an der Schmerzgrenze, sorgt für ein Gewitter im Kopf, das noch lange nachhallt.

Doch da gibt es auch noch Schauspieler Sebastian Songin, der als Sprecher durch die Geschichte führt. Er ist der Junge, der mit seiner Familie aus dem Krieg im zerfallenden Europa nach Ägypten flieht, dort im Flüchtlingslager auf die Genehmigung des Asylantrags wartet, sich im Laufe seines Lebens in der Fremde als »Geduldeter« arrangiert und durchschlägt - aber sich nie so ganz zu Hause fühlt.

Vor welchen Herausforderungen steht man, wenn man sich wider Willen in einer fremden Kultur und Gesellschaft integrieren muss? Wie kann man seine Identität wahren? Was richtet das alles in einer Familie an, in der jeder anders auf Belastungen reagiert? Diese Fragen gilt es in der Inszenierung von Hans Walter Richter in der taT-Studiobühne zu ergründen.

Songin ficht die Rolle des Jungen, der irgendwie zwischen den Welten stecken bleibt, erkennbar an. Rastlos stolpert er über die von Bernhard Niechotz entworfene Bühne, einer schützengrabenähnlichen Wand aus Koffern, die er voller unterdrückter Wut ständig umräumt. Hier stemmt er sich den anderen Jungs im Flüchtlingslager entgegen; hier sieht er seine Schwester an der Unvereinbarkeit der alten und neuen Kultur zu Grunde gehen; hier wird ihm die Jugend geklaut; hier erlebt er den Kampf der Eltern ums Überleben mit. Und hier legt er sich als Erwachsener am Ende seines Lebens ins Bett, noch immer gepeinigt von der Sehnsucht nach der Heimat im Herzen.

Auch Naroa Intxausti und Viktor Rud spüren in ihrem expressiven Gesang dem nach, was Flüchtling sein für einen Menschen bedeutet. Die seelischen Schäden eines Krieges - hier werden sie hörbar. Einen etwas verwirrenden Beitrag dazu leisten die als Texte verwendeten Verse aus Gedichten von Nora Gomringer, die zusätzlich als Übertitel eingeblendet werden. Wohin schauen? Wohin hören? Wie die Wucht der Musik und der Geschichte aushalten? - Auch das Publikum ist herausgefordert und begreift: Heimat ist eben mehr als die Erinnerung an Ikea-Möbel aus der Kindheit und Krieg nicht bloß eine »Werbeunterbrechung«, sondern ein Ereignis, das »die Welt als Hort entkernt«.

Am Ende der Premiere gibt es für Inszenierung, Bühne, Musiker und Schauspieler den verdient kräftigen Applaus. Mancher Zuschauer muss das Gehörte und Gesehene nach sehr intensiven 75 Minuten wohl noch eine Weile nachwirken lassen. Das Kreischen des Krieges noch lange Zeit im Kopf. »Krieg. Stell dir vor, er wäre hier« - eine wahrhaft schreckliche Vorstellung.


Karola Schepp, 11.10.2021, Gießener Allgemeine Zeitung