Der Weg führt ins Offene - Gießener Anzeiger
07.03.2022

Mit dem Stück »Mond Morgen« ist im Gießener Stadttheater die letzte Choreografie von Tarek Assam als Ballettdirektor zu sehen.

Der Einfluss des Mondes auf die Erde sorgte über die Jahrhunderte für unzählige Mythen, wissenschaftliche Theorien und künstlerische Auseinandersetzungen. Nun fügen Gießens Ballettdirektor Tarek Assam und sein italienischer Kollege Mauro Astolfi zwei weitere Annäherungen an dieses Phänomen hinzu. Ihr Tanzabend »«Mond Morgen« feierte am Samstagabend seine Uraufführung im Stadttheater - und wurde zum großen, minutenlang gefeierten Finale für den am Ende dieser Spielzeit scheidenden Leiter der Tanzcompagnie Gießen.

Gegensätzliche Choreografien

Doch zunächst zum Anfang dieses eindrücklichen, knapp zweistündigen Abends, der Astolfi gehörte. Der Gast-Choreograf aus Rom widmete sich unter dem Titel »True Faith« (Wahrer Glaube) den kaum greifbaren und schwer zu benennenden Auswirkungen, die der Mond auf die Psyche ausstrahlt. »Lunatico« ist ein Begriff, der im Italienischen für launenhaft, sprunghaft, flattrig steht. Daraus entwickelt er auch sein Thema. Angesiedelt ist sein Stück in einem großen schwarzen Bühnenzimmer, das allein vom fahlen Mondlicht beschienen wird. Drei schwere Sessel dienen Astolfi dabei als nahezu einziges Requisit, um seine eigenwillige, faszinierende Tanzsprache zu entwickeln.

Hier sind es immer wieder einzelne, vereinzelte Tänzer, die sich mit einer Gruppe, einer Gesellschaft auseinandersetzen müssen. Ihrer aller Kleidung (Gabriele Kortmann) ist schlicht und gleichförmig, ihr Ausweg aus den bisweilen bedrängenden Situationen zumeist ein Fenster an der Bühnenrückseite, das sich regelmäßig öffnet und wieder schließt. So entwickeln sich Szenen von Anziehung und Abstoßung, von Nähe und Distanz, von Zuneigung und Bedrohung.

Was dieser Choreografie eine ungemein intensive Wirkung verleiht, ist die Reduzierung und damit Fokussierung auf Astolfis zentrale Themen. Dazu baut er alle Elemente, die einen Tanzabend so faszinierend machen können, auf perfekt ineinandergreifende Weise zusammen. Die karge Bühne und die zwischen melancholischen Klavierinterpretationen Johann Sebastian Bachs und zirpenden Elektronikflächen wechselnde Musik. Das in wenigen Strahlern gebündelt auf die Bühne fallende Licht. Vor allem aber natürlich die Körpersprache des achtköpfigen Gießener Ensembles.

Kühl, roh und mechanisch wirken bisweilen die Bewegungen, die Tänzer dehnen ihre Gliedmaßen auf extrem unnatürliche Weise und bewegen sich dabei doch ungemein rund und elegant. Da finden sich etwa drei, vier von ihnen rund um eines der Fauteuils zusammen, bilden zusammen einen einzigen Körper, um sich in fließender Perfektion wieder zu trennen.

Und doch schließt Astolfi seine Arbeit auf eher stille Weise, indem er ein Paar miteinander ringen lässt. Und so zeigen die Ensemblemitglieder Madeleine Salhany und Oskar Eon zu sanften, melancholischen Klängen, was ihr italienischer Choreograf mit den Kräften des Mondes verbindet: übersteigertes Selbstwertgefühl auf der einen, Romantik, Leidenschaft und Verlangen auf der anderen Seite.

Diesem Konzept stellt Tarek Assam im zweiten Teil des Abends eine ganz andere Tanzsprache und Bühnenästhetik gegenüber. Seine Arbeit mit dem Titel »The other Side« (Die andere Seite) ist quasi ein opulenter Gegenentwurf zu Astolfis reduziertem Kammerspiel. Hier sind zwölf Ensemblemitglieder unterwegs in neue Welten, die zunächst durch eine Projektion auf dem Bühnenvorhang angezeigt werden: das unendliche, sternenfunkelnde All. Nachdem sich dieser Vorhang öffnet, geht es auf eine Reise mit unbekanntem Ziel.

Die zwölf Tänzer stecken dabei in futuristisch anmutenden, silbernen Anzügen, während sie sich zumeist in Ensembleszenen auf der Bühne mischen. Angestrahlt werden sie dabei von den Strahlen einer durch die durchlöcherte Bühnenwand (Bühne: Fred Pommerehn) scheinenden Sonne, was für spektakuläre Bildeffekte sorgt. Musikalisch unterlegt wird diese Science-Fiction-Atmosphäre von elektronischen Soundcollagen des Münchners Markus Muench, der dazu originale Tonaufzeichnungen einer Raumfahrtmission verwendet hat. Dann wiederum wird es träumerisch und verspielt, wenn der 50er-Jahre-Song »Mr. Sandman« oder der Pophit »Dancing in the Moonlight« in zeitgemäß elektronisch aufbereiteten Varianten zu hören sind und ein Ensemblemitglied, an Seilen hängend, kopfüber durch den Bühnenraum schwebt.

In der bildstarken, hochtourigen Arbeit Tarek Assams liegen die Angst vor dem Unbekannten und die Faszination für ferne Welten nah beieinander. Ein Thema, das der seit 20 Jahren amtierende Gießener Ballettdirektor nicht ganz zufällig gewählt haben dürfte. In seiner Choreografie führt der Weg hinaus ins Offene. Was auch für ihn persönlich gilt, denn seine Arbeit endet mit Ablauf dieser Spielzeit.

Am Ende ernteten der 59-Jährige und sein großartiges Ensemble langen, lauten, begeisterten Applaus. Es war die Publikumsreaktion auf einen wunderbaren Tanzabend - aber ganz sicher ebenso ein Stück Dankbarkeit für die von Assam am Stadttheater zwei Jahrzehnte lang geleistete Arbeit, die viele mittelhessische Fans gefunden hat.


Björn Gauges, 07.03.2022, Gießener Anzeiger