Die blasse Klasse - Gießener Allgemeine Zeitung
07.03.2022

Der Mond wirft sein fahles Licht ins Dunkel der Nacht und verunsichert die Menschen. Plötzlich wirken ihre Körper wie elektrisiert. Beim neuen Tanzabend im Stadttheater wird auch im luftleeren Raum euphorisch geatmet.

Was der Mond nicht alles können soll. Mythologisch betrachtet, steuert er Geburten, lässt Pflanzen besser wachsen und beugt der Glatzenbildung vor. Auch hilft er bei Geldanlagen und Diäten. Für Ebbe und Flut ist er tatsächlich verantwortlich. Was sonst noch alles möglich erscheint, demonstrieren im Stadttheater Mauro Astolfi und Tarek Assam in ihrem neuen Tanzabend »Mond Morgen«. Das Große Haus zeigte sich am Samstag von der Premiere begeistert und spendete ausgiebig Beifall.

Die beiden Künstler widmen sich in einer jeweils eigenen Choreografie gemeinsam mit der Tanzcompagnie Gießen dem Himmelskörper und seiner Anziehungskraft. Da der Mond viel weniger Gewicht auf die Waage bringt als Mutter Erde, ist seine Schwerkraft eine Leichtkraft - wie gemacht für akrobatische Bewegung.

In seinem Stück »True Faith« (zu Deutsch: Wahrer Glaube) stellt der Römer Astolfi die Frage: Können die Kräfte von Signora Luna das Leben auf der Erde beeinflussen? Offenbar können sie. Drei dunkle Sessel auf einem dunklen Podest in einem halbdunklen, also mondhellen Raum mit einem Fenster auf der Rückseite bieten das fahle Ambiente für blasse Klasse.

Acht Tänzerinnen und Tänzer ordnet Astolfi in kulminierenden Bildern an. Die androgyn gekleidete Gruppe wird mal als Individuum, mal als Kollektiv sichtbar. Es entsteht Raum für eindringliche Pas de deux, die kargen mondromantischen Momente des Abends.

Und dann stieg der 25-Jährige aus dem Fenster und verschwand. Doch er kehrt zurück. Nach einem Ich-Verlust kehren sie alle zurück, um mit reichlich Worten stumm den Mond anzuheulen. Die zeitgenössische Musik wirkt dazu sphärisch und kristallisierend, ehe die Interpretation der Bach-Kantate »Nun komm der Heiden Heiland« von Víkingur Ólafsson für einen Moment Ruhe bringt.

Science-Fiction-Fan Assam zieht es nach der Pause in »The other side« (Die andere Seite) hinaus ins Weltall zu jenem dunklen, der Erde abgewandten Teil des Mondes. Er wird zur Projektionsfläche für Emotionen, Träume, Ängste. Insgeheim aber will Assam in seiner letzten großen Choreografie als Ballettdirektor am Stadttheater in ferne Galaxien vordringen, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Zumindest sind die Sterne da. Und aus dem Bühnenhintergrund leuchtet Gegenlicht durch eine akkurat gelochte Schweizer-Käse-Wand.

Mit »Apollo 11« auf Kurs

Das zwölfköpfige Ensemble wandelt sich von Erdlingen zu Mondlingen. Ihre Körper wirken elektrisiert. Auf der Basis einer Soundcollage kreiert Assam intensive Bilder, die im luftleeren Raum atmen. Dazu benutzt er Gesprächsfetzen zwischen »Apollo 11« und dem Mission Control Center der NASA während der ersten Mondlandung 1969. Auch Pop-songs wie »Mr. Sandman« und »Dancing in the Moonlight« werden angespielt.

Die Tanzcompagnie erweist sich im Halbdunkel als präzis agierende Einheit. Madeleine Salhany ist in beiden Stücken als Solistin auf der Höhe der Zeit, zeigt mit Oskar Eon ein impulsives Duett, während Julie De Meulemeester mit ihrer Grazie bezirzt. Floriado Komino schwebt in »The other side« minutenlang als Astronaut kopfüber vom Schnürboden.

Das reduzierte Bühnenbild und Lichtdesign von Fred Pommerehn sowie die abstrakten Kostüme von Gabriele Kortmann unterstreichen in beiden Werken die Leichtigkeit des Scheins. Astolfi gebührt der artifizielle Part, Assam setzt mehr auf Unterhaltung in einem exquisiten Allerlei.


Menfred Merz, 07.03.2022, Gießener Allgemeine Zeitung