Die Falschen, das sind die anderen - Gießener Anzeiger
20.12.2021

Minutenlanger Applaus für Bellini-Oper »Zaira«: Seelendrama und Belcanto-Fest in einem

Das Brautkleid strahlt in Gold, doch es wird nie getragen werden. Am Ende hält es der verhinderte Bräutigam in seinen Händen und blickt mit leeren Augen auf die tote Frau am Boden, die es hätte tragen sollen. Er selbst hat sie soeben erdolcht. Vorhang!

Von der Unmöglichkeit einer Liebe im Spannungsfeld zweier Kulturkreise handelt die bei der Uraufführung durchgefallene und seither selten gespielte Oper »Zaira« von Vincenzo Bellini, die den Weg zurück ins Bühnenleben am Samstagabend im Gießener Stadttheater triumphal eingeschlagen hat. Heller Jubel und Applaus wogten minutenlang durch das Haus am Berliner Platz, wo das Premierenpublikum in zweieinhalb Stunden eine in jeglicher Hinsicht geschlossene, in sich stimmige Aufführung erlebte, in der die Schaulust ebenso gestillt wird wie der Appetit auf schöne Melodien. Unter der Regie von Gastregisseur Dominik Wilgenbus entfaltet sich ein aufwühlendes, anrührendes Seelendrama mit bezwingenden Bildern, und am Dirigentenpult des Philharmonischen Orchesters lässt Jan Hoffmann dem schwelgerischen Klangzauber Bellinis freien Lauf. Zudem macht eine Regie herausragender Gesangssolisten den Abend zu einem großen Belcanto-Fest.

Liebe nicht gerne gesehen

Jerusalem im Zeitalter der Kreuzzüge: Sultan Orosmane will die Christin Zaira aus seinem Harem heiraten, die dafür zum Islam übertreten will. Diese Liebe wird von beiden Glaubensgemeinschaften nicht gern gesehen, Intoleranz in beiden Lagern führt zur Katastrophe. Bellinis griff bei dieser Oper auf einen Bühnenstück Voltaires zurück. Dem Komponisten ging es in erster Linie stets um die Illustration des Affekts, und dabei kommt es nicht darauf an, wer den Affekt äußert: Schurken singen bei ihm genauso kantabel und schön wie reine Seelen. Dazu kommt, dass es in »Zaira« eigentlich keine richtigen Bösewichte gibt, weil ja jeder davon überzeugt ist, die richtige Religion, den richtigen Gott, die richtige Lebensform zu haben, kurz: richtig zu handeln. Die Falschen, das sind doch immer die anderen.

So gesehen ist das fast 200 Jahre alte Werk heute hochaktuell. Und weil Widersprüche nicht einfach aufzulösen sind, verspricht Voltaire, der zu den Klängen der Ouvertüre als Puppe (Puppenspieler: Francesco Rescio) auftritt, denn auch eine »zärtliche Tragödie«. Bei der Gestaltung des Bühnenraums haben sich Lukas Noll, der langjährige Ausstatter des Hauses, und Kati Moritz (Lichtregie) wieder einmal selbst übertroffen. Auf zwei Ebenen blickt man in verschiedene Kammern, die häufig parallel bespielt werden und mit ihren geschwungenen Bögen auf die Architektur des Sultanpalasts verweisen. In Videoeinspielungen tanzen orientalische Ornamente und Schriftzeichen über die Wände. Man sieht aber auch eine mittelalterliche Schlachtdarstellung mit flatternden Fahnen: links die grüne des Islam, rechts das rote Kreuz der Kreuzritter. Ganz in Grün ist die Szenerie getaucht, wenn Hofgesellschaft des Sultans erscheint.

Dominik Wilgenbus lässt zwar in einem märchenhaften Ambiente spielen, beschwört aber keine orientalische Märchenromantik herauf, die leicht kitschig werden könnte. Er geht vielmehr betont sachlich vor und entwickelt das Geschehen aus der Seelenlage der Figuren heraus. Die inneren Vorgänge sind ihm wichtig, und deshalb verzichtet er auch auf jeglichen überflüssigen Aktionismus, der sowieso nur nervt, und gestattet seinen Figuren, ruhig zu stehen und einzig und allein ihre Gefühle durch die Musik sprechen zu lassen. Dieser Regisseur braucht keine Mätzchen, um zu starker Wirkung zu gelangen.

Er nimmt das Werk beim Wort und schenkt den Details sehr viel Aufmerksamkeit. Da ist zum Beispiel das bereits erwähnte goldene Brautkleid, das die gesamte Aufführung von Anfang an zu sehen ist und das die Zofe Fatima am Schluss nimmt und dem innerlich völlig abwesenden Sultan überwirft.

Eigens für die Gießener Aufführung hat der ehemalige Generalmusikdirektor Herbert Gietzen eine Fassung für ein Kammerorchester mit Flügel und Harmonium erstellt, die der Bellini’schen Klangsinnlichkeit nichts wegnimmt, an Effekten nichts einbüßt und in der Wiedergabe unter der Leitung von Jan Hoffmann klangschön und transparent daherkommt.

Italienische Träne in der Stimme

Wenn Koloraturen gefordert sind, ist Naroa Intxausti immer eine gute Wahl. Mit ihrem sich in höchste Höhen schwingenden Sopran gelingen ihr in der Titelrolle scheinbar mühelos die Spitzentöne, doch hier und da weist ihr Gesang auch Härten und einen etwas einseitigen Ausdruck auf. Im herzzerreißenden Liebesduett zu Beginn des zweiten Akts zeigt sich, wie wunderbar sie mit dem Bass des Sultandarstellers Marcell Bakonyi harmoniert, der sozusagen die italienische Träne in der Stimme trägt. Kraftvoll und respektgebietend strahlt er Agilität aus. Einen starken Eindruck hinterlässt Na’ama Goldman mit ihrem tiefen Mezzo in der Hosenrolle als Nerestano. Äußerlich wie Prinz Eisenherz kostümiert, steckt sie voller Tatenkraft, und dieses kämpferische Element teilt sich auch in ihrem ausdrucksvollen Gesang mit. Im Kreis der Kreuzritter schwingt sie sich am Ende zu expressiver, tragischer Größe empor.

Mit schönen Phrasierungen seines hellen Tenors glänzt Leonardo Ferrando als Corasmino. Kouta Räsänen bringt als Lusignano seinen kräftigen, kernigen Bass zu Geltung. Den guten Gesamteindruck vervollständigen Sofia Pavone (Fatima), Kornel Maciejowski (Castiglione), Josua Bernbeck (Meledor) sowie der wie immer gut instruierte Opernchor des Stadttheaters.


Thomas Schmitz-Albohn, 20.12.2021, Gießener Anzeiger