Die Welt ist ihnen nicht genug - Gießener Anzeiger
07.10.2021

„Gold! – Vom Fischer und seiner Frau“ zeigt das Grimm-Märchen als Klangabenteuer für Kinder ab fünf Jahren im Stadttheater

Das Meer hat viele Gesichter und Temperamente. Es kann sanft säuseln und diamanten glitzern. Aber auch tosend toben und sich brandgefährlich auftürmen. In dem neuen Musiktheaterstück „Gold! – Vom Fischer und seiner Frau“, das gestern seine Premiere im Gießener Stadttheater feierte, ist das Meer beides – und noch eine ganze Menge dazwischen. Beteiligt sind daran die dem Gießener Publikum wohlbekannte Mezzosopranistin Sofia Pavone und der Schlagzeuger Elija Kaufmann – sowie das Publikum ab fünf Jahren, das im Laufe der gut einstündigen Spielzeit gleich acht Mal aufgerufen war, sich lautmalerisch an der Geschichte zu beteiligen.

Es ist das bekannte Grimm-Märchen, das hier in einer musikalischen, von Maria Kwaschik inszenierten Version von dem bitterarmen Fischerpaar erzählt. Hinzu kommt nun deren Sohn Jacob, der einen Fisch fängt und von dem Tier gebeten wird, es wieder freizulassen. Zur Belohnung will ihm der Fisch einen Wunsch erfüllen. Und der gutmütige Jacob, der mit seinen Eltern in einem Erdloch haust, sehnt sich nach einem Paar Schuhe, die er nach dem Aussprechen dieses Verlangens auch umgehend an den Füßen trägt.

Davon berichtet Sofia Pavone, die wie unter Märchenerzählern üblich, bei ihrem Vortrag zumeist auf einem großen Sessel sitzt. Nicht ganz freiwillig allerdings, wie Abdul-M. Kunze, der langjährige Leiter des Gießener Kinder- und Jugendtheaters, einführend berichtet. Denn die Sängerin hat sich zwei Tage vor der Premiere bei den Proben am Bein verletzt, was ihren Bewegungsradius auf der Bühne eminent einschränkt. Platzen lassen wollte sie das Stück aber auf gar keinen Fall, zumal es die erste Aufführung im Großen Haus für Kinder seit Beginn der Pandemie ist. Doch die versierte Erzählerin braucht gar nicht viel Bewegung, um das junge Publikum in ihre Geschichte hineinzuziehen. Immer wieder wechselt sie vom gesprochenen Wort zu kurzen Gesangspartien, mit deren Klangfarben sie die Geschehnisse dramatisch zuspitzt.

Unterstützt wird sie dabei von Elija Kaufmann, der mit einer Menge Schlagwerk ausgestattet ist und auf seiner Marimba, seinem Xylophon, seinem Gong und zahlreichen anderen Instrumenten bemerkenswerte Toneffekte erzielt. Wie eine Filmmusik trägt der von ihm geschaffene Klangteppich zur Untermalung der Geschehnisse bei. Viel mehr braucht es eigentlich nicht, um den Fortgang dieses Klangmärchens zu illustrieren. Sofia Pavone stehen ein paar kleine Requisiten (Bühne und Kostüme: Thomas Döll) zur Verfügung: neben den Schuhen auch ein Lämpchen, eine Fahne, eine Art Schatzkiste und eine an einer Schnur aufgereihte Kette von Papierenten, die vom plötzlichen Reichtum der Familie erzählen, der sie bis in ein Schloss führt, samt Ententeich.

Doch die so reich Beschenkten können bekanntlich nicht genug bekommen. Sie wünschen sich zunächst ein Bett, dann ein Haus, ein Schloss sowie Bedienstete – bis die Eltern Jacob noch einmal losschicken, um dem Fisch einen allerletzten Wunsch abzuverlangen – weil sie am liebsten die ganze Welt besitzen möchten. Doch da ist noch einmal das Publikum gefragt. Denn jetzt wird das Meer so richtig wütend. Und schon rauscht ein mächtiges Brausen aus vielen Kindermündern durchs Stadttheater. Ein Klang, der wie Musik in den Ohren der Theatergänger klingelt – wenn man nicht gerade ein gieriger Fischer ist.


Björn Gauges, 07.10.2021, Gießener Anzeiger