Die Zukunft fest im Blick - Gießener Allgemeine Zeitung
02.12.2021

Es ist die alte Reise zweier Visionäre. Beethoven trifft auf Schönberg. Beim Sinfoniekonzert im Stadttheater gibt mit Clemens Schuldt ein junger deutscher Dirigent die Richtung vor. Er steht erst am Anfang seiner Reise.

Gegensätze ziehen sich an. Auch in der Musik. Daher muss es kein Fehler sein, wenn Ludwig van Beethoven (1770 - 1827) auf Arnold Schönberg (1874 - 1951) trifft. Unter dem Titel »Janus« präsentiert das Philharmonische Orchester Gießen beim Sinfoniekonzert im Stadttheater zwei Werke dieser beiden musikalischen Visionäre, die wie der römische Gott sowohl in die Vergangenheit als auch mit festem Blick in die Zukunft schauen. Die 4. Sinfonie begibt sich in einen Diskurs mit der »Verklärten Nacht«.

Am Pult steht mit Clemens Schuldt ein besonderer Gast. Der junge Chefdirigent des Münchener Kammerorchesters gilt als einer der deutschen Nachwuchskräfte mit Ambitionen. Nach dem Schlussakkord erhielten er und das Orchester am Dienstag lang anhaltenden Applaus.

Beethovens selten gespielte Vierte aus dem Jahr 1806 fristet bis heute ein Schattendasein, obschon der Meister damals in seine ehemalige Klavierschülerin, eine verwitwete Gräfin, verliebt war, und mit Verve ans Werk ging. Es sprühen die Funken. Schumann hielt die Sinfonie gar für die romantischste des großen Klassikers, für »eine griechisch schlanke Maid zwischen zwei Nordlandriesen«. Schon eilt die Gräfin noch einmal ins Bild, während die 3. und 5. Sinfonie als Nordlandriesen fungieren.

Trotz Gräfin fängt das Ganze düster an. Ein Jahr nach der Oper »Fidelio« tastet sich finsteres Moll, wie Schuldt in seiner Anmoderation betont, »durch einen Kerker«. Dann notiert Beethoven ein Allegro vivace - und die Post geht ab. Besonders die Geigen legen ein irrwitziges Tempo vor, das sie im Schlusssatz neuerlich bewegt. Im Adagio zelebriert der Komponist Melodie und Rhythmus. Der dritte Part, das Menuett, ist wild und nett. Es darf gereimt werden. Auch bei Schönberg. Seine »Verklärte Nacht« beruht auf dem gleichnamigen Gedicht von Richard Dehmel. Es beschreibt den Spaziergang eines Paars im Mondschein, bei dem die Holde ihrem Liebsten gesteht, sie erwarte ein Kind von einem anderen.

Die roten Fäden nicht verlieren

Am Ende aber wird alles gut: »Er fasst sie um die starken Hüften, ihr Atem mischt sich in den Lüften...« Schönberg widmet sich auf dem Weg ins 20. Jahrhundert der Programmmusik, wobei zwar nicht die »Hüften«, aber die »Lüften« hörbar werden.

Das Stück gehört in die tonale Schaffensphase des Künstlers, weshalb es mit d-Moll auch noch eine Grundtonart hat. Doch wegen all der melodischen Sprünge muss der Zuhörer konzentriert bei der Sache bleiben, um die roten Fäden nicht zu verlieren.

Dafür sorgt Dirigent Schuldt. Der gebürtige Bremer führt das Orchester mit akkuraten Bewegungen. Hin und wieder legt er ausladende Gesten ein, um die Musiker zu motivieren. Die »Verklärte Nacht« wirkt bei ihm mollig, die Vierte feurig. Schuldt setzt die Tempi mit Bedacht, weshalb der Schönberg bisweilen etwas behäbig erscheint, während Beethoven eine glänzende Interpretation erfährt. Das Orchester spielt nicht ganz ohne Fehl, aber ohne Tadel.


Manfred Merz, 02.12.2021, Gießener Allgemeine Zeitung