Durchwehende Endzeitstimmung - Gießener Anzeiger
07.05.2022

Sinfoniekonzert im Stadttheater: Das Philharmonische Orchester Gießen bringt eine Brahms-Komposition zum Leuchten. Und das ist noch nicht alles.

Gießen. Ein junger japanischer Pianist bannt mit einer schier atemberaubenden Darbietung die Zuhörer, und das Philharmonische Orchester Gießen erklimmt unter der zupackenden Leitung von Generalmusikdirektor Florian Ludwig ein Gipfelwerk der Sinfonik: All dies und noch viel mehr ereignete sich im Sinfoniekonzert am Dienstagabend im Stadttheater, das zu einem Ausflug durch verschiedene Kulturkreise einlud und ein bewegtes, herzlich applaudierendes Publikum zurückließ.

Auftakt mit Klangteppich

Der Abend begann mit dem Stück »How Slow the Wind« des japanischen Komponisten Toru Takemitsu (1930 - 1996), das über einer einfachen Melodie einen flirrenden Klangteppich ausbreitete und in der ausgefeilt-luziden Wiedergabe durch das Orchester eine große innere Ruhe ausstrahlte. So ging etwas zutiefst Beruhigendes von dieser fein ziselierten Musik aus, die wie im Atemrhythmus in einem sehr gemächlichen Tempo ablief. Es schien, als treffe Debussy in diesem Loblied auf die Natur auf fernöstliche Klangwelten.

Übergangslos befand man sich plötzlich im überbordenden Klangstrom des spätromantisches Klavierkonzerts cis-Moll der Amerikanerin Amy Beach (1867 - 1944). Die Komponistin war ein Wunderkind, eine musikalische Naturbegabung. Sie besaß das absolute Gehör, wusste schon als Kind, »dass kein anderes Leben als das eines Musikers jemals für mich in Frage gekommen wäre«, veröffentlichte etwa 300 Kompositionen und konzertierte in Amerika und Europa als virtuose Pianistin. Ihr viersätziges Klavierkonzert, das an manchen Stellen an Brahms, an manchen an Tschaikowsky erinnert, hat sie als Solistin viele Male selbst aufgeführt, und natürlich hat sie sich den glänzenden, immens schwierigen Klavierpart voller Tücken und Effekte selbst in die Finger geschrieben.

So stellt das Werk eine gewaltige Herausforderung für jeden Pianisten dar, doch der 24-jährige Teppei Kuroda, der derzeit noch an der Musikhochschule Detmold studiert, zugleich aber auch schon auf etliche gewonnene internationale Preise und Wettbewerbe zurückblicken kann, löste die Aufgabe mit Bravour. Zuverlässig begleitet von Florian Ludwig und dem Orchester ließ er bereits im ausufernden Allegro moderato des Kopfsatzes mit geradezu frappierendem Selbstverständnis sein Virtuosentum aufblitzen. Trotz seiner jungen Jahre wirkte sein Spiel so souverän und abgeklärt wie bei einem alten Hasen. Besonders beeindruckend entlockte er im Scherzo vivace des zweiten Satzes, einem verspielten Perpetuum mobile, dem Flügel lauter funkelnde, perlende Töne in rasendem Tempo, um dann nach dem vergleichsweise ruhigen und düster eingefärbten Largo im schwungvollen Schlusssatz noch einmal seine ganze spielerische Brillanz aufzubieten. Für den langanhaltenden Applaus bedankte sich der junge Mann mit einem Stück von Debussy als Zugabe.

Wie schon im vergangenen Sinfoniekonzert, so bestimmte auch diesmal der Krieg in der Ukraine einen Teil des Programms. In einer Orchesterfassung erklang das »Gebet für die Ukraine« von Valentin Silvestrov. Der 84-jährige Komponist wollte bis zuletzt seine Heimatstadt Kiew nicht verlassen. Auf Drängen seiner Familie und seines Freundeskreises sowie unter dem Eindruck der zunehmenden Bedrohung entschied er sich schließlich doch, nach Berlin zu fliehen, wo er sich seit dem 8. März aufhält.

Nach dem kurzen, eindringlichen Stück, das zum Innehalten und Anteilnehmen anregte, setzte - wiederum übergangslos - das Hauptwerk des Abends ein: die Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98 von Johannes Brahms, die alle anderen seiner Sinfonien übertrifft. Eine Art Endzeitstimmung durchweht alle vier Sätze, und dieser melancholische Grundzug erzeugt eine einheitliche Stimmung, der sich kein Zuhörer entziehen kann. Das komplizierte, polyphone Geflecht verlangt von den Ausführenden höchste Konzentration.

Mit höchster Konzentration

Energisch und temperamentvoll trieb Ludwig die Musiker an. Auch wenn zwei, drei Einsätze zu Beginn nicht ganz sauber waren, trübte das nicht den positiven Gesamteindruck. Haften bleibt, dass der Dirigent prägnant akzentuierte und sinnfällig gliederte, um den einzelnen Instrumentenstimmen genügend Raum zu geben. Überhaupt wirkte alles sehr transparent, dynamisch und druckvoll, denn Ludwig ist beileibe keiner, der dazu neigt, irgendetwas zu zerdehnen oder zu verschleppen. Man spürte förmlich, wie sich seine Energie aufs Orchester übertrug, und das musizierte vortrefflich im sonoren, charakteristischen Brahms-Klang. So traten die melancholisch-herbe Stimmung des ersten Satzes, die schöne Innigkeit des zweiten, die stürmische Bewegtheit des dritten und die polyphone Kunst des großartigen vierten Satzes leuchtend hervor.

Zum Abschluss bat Florian Ludwig die Besucher um Spenden für das in Gießen ansässige Hilfswerk GAiN, das Hilfsgüter in die Ukraine bringt. Dabei kam die Summe von 2320 Euro zusammen, wie das Stadttheater berichtete.
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07.04.2022, Gießener Anzeiger