Dynamik aus dem Pulverfass - Gießener Allgemeine Zeitung
20.09.2021

Elgar trifft auf Wieniawski. Britische Tonkunst auf polnischen Geniestreich. Das erste Konzert der neuen Spielzeit bestreitet im Stadttheater das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks.

Vierzehn Freunde müssen es sein. Nicht elf. Erst dann handelt es sich um die »Enigma-Variationen« von Edward Elgar. Die Komposition von 1898 gab seinerzeit viele Rätsel (Enigma) auf.

Elgar stellt in den schwelgerischen kurzen Stücken für großes Orchester über eine eigene Melodie ihm gut bekannte Musiker, seine Frau Alice und weitere Künstler vor. In der letzten Variation skizziert sich der verschmitzte Meister selbst, weshalb man ihm eine gewisse Eitelkeit nicht absprechen sollte.

Das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks eröffnete am Samstag mit seinem Gastspiel den Konzertreigen der neuen Spielzeit am Stadttheater. Neben Elgar steht zum Beginn des Abends im Großen Haus mit dem Polen Henryk Wieniawski ein Virtuose auf dem Programm, der es in sich hat.

Das 1. Violinkonzert in fis-Moll des Wundergeigers aus dem Jahr 1853 strotzt nur so vor technischen Schwierigkeiten und Dynamik aus dem Pulverfass. Dass der junge Komponist damals gerade mal knappe 18 Lenze zählte, hört man den drei Sätzen keineswegs an.

Als Solist fungiert Florin Iliescu, 1. Konzertmeister des Frankfurter Ensembles. Der gebürtige Bukarester fängt das osteuropäische Temperament des Werks auf seiner Violine von Gioffredo Cappa (1716) furios ein. Iliescus Spielfreude raubt mit heiklen Quadrupel-Griffen und bis in die höchsten Höhen kletternden Flageolett-Tönen dem Publikum ein ums andere Mal den Atem.

Am Pult steht mit Joseph Bastian, ehemals Bassposaunist des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, ein Schweizer Dirigent, der mit behutsamen Bewegungen durch den Wieniawski führt. Iliescu heimst nach dem Schlussakkord mächtig Applaus ein. Danach verlangt der Elgar volle Konzentration.

Beim Briten beweist Bastian sein Gespür für das Kleinteilige, die Miniatur, die sensible Phrasierung, die es dem Stück ermöglicht, nicht nur mit seiner Opulenz zu punkten. Das Orchester setzt auf pochende Rhythmen und die routinierte Sicherheit im Decrescendo. Sie machen den Elgar zum Genuss.

Das Geheimnis bleibt geheim

Hinter der eigentlichen Partitur soll sich dem Komponisten zufolge noch ein weiteres, nie direkt gespieltes und bis heute nicht identifiziertes Thema verbergen. Zahlreiche Forscher haben versucht, das Geheimnis zu lüften.

Von Bach bis Beethoven reicht die Palette der offerierten Tonfolgen. Ob es sich tatsächlich um das B-A-C-H des Barockmeisters handelt oder um den zweiten Teil der »Sonate pathétique« des großen Klassikers, bleibt offen. Vielleicht ist aber auch der Kontrapunkt eines Volkslieds gemeint.

Gut möglich allerdings, dass es die geheime Melodie gar nicht gibt und Elgar mit seinem bekannten Spaß an Rätselratereien das Ganze nur erfunden hat. Aufmerksamkeit jedenfalls war ihm danach gewiss. Der Konzertbesucher kann die verwegenen theoretischen Lösungsversuche goutieren - oder sich, ganz praktisch, auf die Musik konzentrieren.


Manfred Merz, 20.09.2021, Gießener Allgemeine Zeitung