Ein Mord und alles andere - Gießener Anzeiger
01.02.2022

Regisseur Christian Fries macht Dostojewskis Roman »Die Brüder Karamasow« zu einem Schauspieldrama auf der taT-studiobühne.

Karamasow in Gießen: Regisseur Christian Fries und sein Schauspielquartett versuchen dem Publikum, den Zugang zu diesem russischen Familienepos so weit wie möglich zu erleichtern. Im Programmheft steckt eine Art Stammbaum, der die Figuren miteinander in Beziehung setzt. Und vor dem eigentlichen Beginn sind die titelgebenden drei Brüder Karamasow in Videoschleifen auf einer Leinwand zu sehen, damit sich die Zuschauer schon einmal an ihre Gesichter gewöhnen können.

Beziehungsgeflecht

Dennoch stellt sich mit dem Einsetzen der Spielhandlung ein Gefühl der Überforderung ein, angesichts der Vielzahl der Figuren sowie der enormen Fallhöhe dieser Geschichte. Doch das kann bei einer extrem verdichteten Theaterversion des Romanklassikers »Die Brüder Karamasow« wohl gar nicht anders sein. Am Donnerstagabend feierte Fries’ Fassung des Werks Premiere in der taT-Studiobühne - eine Inszenierung, die ihr Publikum vor eine echte Herausforderung stellte.

Worum geht es also in diesem von Dostojewski 1880 fertiggestellten Mammutwerk? Um drei sehr unterschiedliche Brüder und ihre Charaktere, Liebesbeziehungen, Freundschaften und Blicke auf die Welt. Und schließlich um einen an ihrem Vater verübten Mord, der alle drei Söhne zu Verdächtigen macht. Der älteste von ihnen heißt Dimitri (David Moorbach): ein sprunghafter, emotionaler Charakter, der zudem von Geldnöten geplagt ist. Er liebt eine exaltierte junge Frau namens Gruschenka, ist aber bereits mit der Offizierstochter Katerina (beide: Johanna Malecki) verlobt, die wiederum von seinem jüngeren, bedächtigeren Bruder Iwan (Magnus Pflüger) begehrt wird. Und dann ist da noch der jüngste, Alexej (Maximilian Schmidt), ein aufrechter, etwas blasser Klosternovize, der von seinen beiden Brüder zunächst nicht recht für voll genommen wird.

Diese fünf Figuren bilden das Zentrum des zweieinhalbstündigen Stücks, in dem das famos agierende Schauspielquartett auch zahlreiche weitere Randfiguren verkörpert. So widmen sie sich in unterschiedlichen Figurenkonstellationen und auf verschiedenen Handlungsebenen den ganz großen Themen: Gott und Geld, Liebe und Leiden, Tod und Teufel (in Menschengestalt).

Die weitgehend schwarze Bühne (Imme Kachel) ist karg ausgestattet. Ein paar Stühle, ein alter Kühlschrank, quer durch den Raum gespannte Drähte, ein Teppich verorten das Personal im abstrakten Irgendwo. Im Vordergrund steht hier das gesprochene Wort - und das wird in bisweilen schwindlig machendem Tempo artikuliert. Etwa in der Eingangsszene, in der eine vielköpfige Abendgesellschaft weitgehend über Mikrofone zu hören - aber nicht zu sehen ist, so dass sich das Geschehen zunächst vor allem im Kopf des Betrachters entwickelt. Oder im von Moorbach fulminant vorgetragenen Monolog Dimitris, der seinem Bruder Alexej berichtet, wie er an 3000 Rubel gekommen ist und welche dubiosen Pläne er mit dem Geld umsetzen will. Oder in Iwans tiefgründiger Überlegung, wie die sadistische Gewalt zu erklären ist, mit der manche Eltern ihre Kinder quälen. Es ist ein Moment, der auf die philosophische Dimension verweist, die in Dostojewskis Romanvorlage steckt.

Kriminalfall

Hinzu kommen gewitzte inszenatorische Kniffe wie eine Probenszene, in der die Darsteller als sie selbst eine Art Spiel im Spiel markieren. Es gibt Live-Videos, die den Bühnenraum erweitern und hinter die Kulissen blicken lassen. Und immer wieder Szenen, die für neue Perspektiven sorgen, bevor sich das Stück (nach einer Pause) schließlich mehr und mehr zu einen Kriminalfall entwickelt - der einen überraschenden Ausgang bereithält.

So bietet dieser Theaterabend große Spielfreude, originelle Regieeinfälle, komplexe Inhalte und damit eine Mischung, die manch einen Besucher neugierig auf Dostojewskis berühmte Vorlage machen dürfte. Anderen wird nach diesen zweieinhalb fordernden Stunden noch ein ganzes Weilchen der Kopf schwirren.


Björn Gauges, 29.01.2022, Gießener Anzeiger