Eine schrecklich nette Familie - Gießener Anzeiger
01.04.2019

Franz Kafkas „Die Verwandlung“ als grotesk-düsteres Kammerspiel auf der taT-studiobühne

An diesem Satz kommt kein Schüler im Deutschunterricht vorbei: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ So beginnt Franz Kafkas im Jahr 1912 entstandene und 1915 erstmals veröffentlichte Erzählung, die seitdem unzähligen Interpretationen unterzogen worden ist. Regisseur Christian Fries fügt nun auf der taT-Studiobühne seine eigene Deutung hinzu. Bei ihm gehen Gregor und das Publikum durch eine grotesk überzeichnete Familienhölle. Am Freitagabend feierte „Die Verwandlung“ Premiere auf der taT-Studiobühne.

Eine Szene wie diese kennt man sonst eher von Loriot: „Reichst du mir bitte die Butter?“, flötet die Tochter. „Aber gerne“, antwortet die Mutter, um im gleichen Tonfall zu entgegnen: „Reichst du mir bitte die Marmelade?“ Natürlich gerne. Wo man bei Loriot noch über Förmlichkeit und Steifheit angesichts solch eines Frühstückstischdialogs lachen konnte, so ist hier der dunkle Abgrund immer spürbar, der unter der Oberfläche des mit reichlich komischen Zügen versehenen Familienidylls lauert. Christian Fries zeigt in seiner Version von Kafkas Erzählung die eng verwobene Bande zwischen Vater, Mutter, Kindern – und die furchtbaren Folgen ihres Reißens für den plötzlich im Panzer eines Käfers steckenden Gregor, der beim Frühstück längst nicht mehr mit am Tisch sitzen darf. Dazu verzichtet der Regisseur weitgehend auf Dialoge – auch auf den berühmten ersten Satz – und lässt die vier Schauspieler vor allem spielen, ohne zu sprechen. Vieles wird hier angedeutet, vieles ausgespart. Dazu passt das von Bühnenbildnerin Imme Kachel gestaltete Interieur der Samsa-Wohnung, das aus nicht viel mehr als ein paar Stühlen, einem Bett, einer Lampe, einem Tisch besteht und sich sonst vorwiegend im leeren dunklen Raum abspielt.

Darin bewegen sich die vier weiß geschminkten Familienmitglieder mit ihren dunkel umrandeten, bisweilen weit aufgerissenen Augen wie Schauergestalten in F. W. Murnaus expressionistischen Horror-Stummfilm-„Nosferatu“. Unterstrichen wird diese beklemmende Atmosphäre durch einen inszenatorischen Einfall, der mit wenig Aufwand große Wirkung erzielt. Irgendwann vollzieht sich die räumliche und geistige Trennung Gregors von der Familie durch eine durchsichtige Plastikplane, die mitten durch den Raum gespannt wird. Wenn die Gesichter der Darsteller dann die Folie berühren, sehen sie aus wie die schauderhaften Masken von Untoten in einem Splattermovie.

Doch der Horror, die Angst und Panik um die eigene Existenz wird bei Fries, der zuletzt mit Büchners „Lenz“ in Gießen zu sehen war, immer wieder von brachialem Witz durchbrochen. Meist in Gestalt von Maximilian Schmidt, der als Tochter Greta mit roter Perücke und einem biederen Schulmädchenkleid kostümiert ist. Deren sexuelle Erweckungserlebnisse spielt er mit einem Dildo durch, den er sich irgendwann in den Schoß schiebt. In einer weiteren Rolle als an der Haustür auftauchender Prokurist und Arbeitgeber brüllt er immer Unverständlicheres in ein Mikro, das durch den dabei entstehenden Klang tatsächlich irgendwie wie die Litanei eines cholerischen Vorgesetzten klingt.

Aber auch die Figur des Vaters, von Lukas Goldbach als Karikatur eines klassischen Haustyrannen angelegt, wird hier nicht recht ernst genommen. Mal im weißen Feinripp-Unterhemd, dann in einer blauen Diener-Livree des buckelnden Angestellten mitsamt tief über die Augen gezogenen Schildmütze steckend, brüllt er dem Sohn seine Abscheu entgegen. Oder er zischt ihm wie eine Schlange vom Bühnenrand: „Depression, Depression“ in einer Art Endlosschleife ins Ohr.

Ist es das, was Gregor hier tatsächlich quält? Das lässt Pascal Thomas offen, dessen Figur hier trotz ihrer Verwandlung als einziger die ruhigen, leisen, innerlichen Töne zugestanden werden. Und dem Ensemblemitglied des Stadttheaters gelingt es sehr überzeugend, die Seelenqualen Gregors anzudeuten, weil er die Kunst beherrscht, innere Konflikte auch durch seine Körpersprache zu offenbaren.

Am Ende bleibt von dieser Inszenierung dennoch vor allem das Groteske, das Surreale der Bilder in Erinnerung haften. Wer nach diesem Theaterbesuch der ganzen Tiefe dieses Dramas nachspüren will, wird also um die Lektüre von Kafkas Vorlage nicht herumkommen.


Björn Gauges, 01.04.2019, Gießener Anzeiger