Eine Welt der schrägen Vögel - Gießener Anzeiger
24.10.2021

Starke Schauspieler, überraschende Regieeinfälle: Auf der Gießener taT-Studiobühne gelingt eine überzeugende Inszenierung des Dramas "Bookpink".

"Bookpink" ist niederdeutsch und steht für Buchfink. Die junge deutsche Autorin Caren Jeß widmet sich in ihrer Arbeit gern den Tieren und hat ihr Theaterstück nach dem Buchfink benannt, das am Donnerstagabend Premiere in der taT-Studiobühne feierte. Wer sich unter "Bookpink" allerdings ein paar leicht zugängliche Tierfabeln vorgestellt hatte, sah sich getäuscht.

Denn der Ausflug in die Tierwelt hatte es schwer in sich. Beteiligt waren auf der Bühne der Deckspfau, der Bussard im Beton der Vernunft, Flamingos, die Sumpfmeise, Pute, Buchfink und weiße Taube. Dargestellt wurden diese schrägen Vögel von Roman Kurtz, Magnus Pflüger und Pascal Thomas als Mensch-Vogel-Hybriden. Große emotionale Rollen, von dem Gießener Trio mit viel Herzblut umgesetzt. Für ihre schauspielerische Glanzleistung wurden sie nach intensiven 105 Minuten Spielzeit vom Publikum in der Studiobühne taT mit lang anhaltendem Applaus belohnt.

Weitere Beteiligte: Die Stimme aus dem Hintergrund von Judith van der Werff, Gastregisseurin Nora Bussenius, Bühnen- und Kostümbildnerin Christin Vahl und Dramaturg André Becker, die Musik stammt von Daniel Dorsch. Nach der langen Corona-Pause endlich wieder im Einsatz: das ganze taT-Team mit seiner technischen und gestalterischen Kompetenz. Auch ihm galt der Applaus.

Das aufwendig gestaltete Bühnenbild zeigt einen Bunker mit erhöhtem Kontrollstand, alles in tristem Grau gehalten. Die Ausstatterin hat hier eine wandelbare Szenerie geschaffen, für die einzelnen der sieben Dramolette entstehen so jeweils eigene Spiellandschaften. Farbe kommt dann durch die bunten Vögel ins Spiel. In einer Glaskabine steht Roman Kurtz als neutraler Beobachter, auf dem Boden liegt der verwahrloste Dreckspfau (Pascal Thomas), der über das Leben flucht und besonders den überheblichen Spatz beschimpft.

Der Pfau ist der einzige, der wenigstens mit ein paar Federn geschmückt ist, seine beiden Kollegen treten eher in menschlicher Gestalt auf, wobei allerdings auch nicht so genau zu erkennen ist, was sie nun genau darstellen. So erschaffen die Kostüme sich verwandelnde Mischwesen, die zeigen, dass Vögel für die Menschen stehen. Immer aufs Neue sind absurde Szenen zu sehen, denen mit Verstand nicht beizukommen ist. Die Botschaft der Szenen dafür ist umso bekannter. Alles schon einmal beobachtet, egal ob bei Vogel oder Mensch.

Keine Harmonie

Hübsch übrigens, dass immer wieder Vogelstimmen aus dem Off eingespielt werden, doch mit Harmonie, wie vielleicht angenommen werden könnte, hat das Ganze nichts zu tun, wie etwa die Szene der Sumpfmeisen zeigt. Einer dieser Vögel will den großen dunklen Fluss überqueren, zwei weitere halbstarke Meisen produzieren sich im Hintergrund, lassen ihre Muskeln spielen und sehen fast schadenfroh zu, wie ihr Bruder ertrinkt. Die Autorin hat in ihren Text auch jede Menge von Schalk und Humor eingebaut, diese heiteren Seiten gehen bruchlos in Boshaftigkeit und Häme über, sodass den Zuschauern das Lachen im Hals stecken bleibt. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit der kleinen Krähe, die durch die tanzenden Flamingos hereingelegt wird, der entsetzte Aufschrei der Krähen-Mutter bleibt im Ohr erhalten.

Zum Schluss wird es richtig philosophisch: Eine weiße Taube, wunderbar gespielt von Roman Kurtz, lebt in der Abfallecke eines Campingplatzes und träumt von einer besseren Welt, von einem Leben in Reichtum und Schönheit, von Barockmusik und wunderbaren Stimmen. Schließlich reisen die Touristen ab und lassen ein paar vergammelte Pommes zurück. Die Taube sagt: "Vom Barock träume ich im Winter nie."

Regisseurin Nora Bussenius, Jahrgang 1982, die bereits an mehreren namhaften Bühnen (darunter in Köln, Berlin und Darmstadt) gearbeitet hat, inszeniert zum ersten Mal in Gießen. Melancholisch gefärbt, mit schrägem Humor durchwebt, zeigt sie Einblicke in verschiedene Lebensentwürfe und lässt dem Publikum genügend Freiheit, eigenen Assoziationen zu entwickeln.

Autorin Caren Jaß bietet eine ähnlich offene Lesart an. In einem Interview sagte sie über ihr Stück: "Wenn ich in drei Worten beschreiben müsste, worum es geht, würde ich sagen: Chancenungleichheit, Religion, Konstruktivismus, Esoterik, Exotismus, eine komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung, Gendern, Geschlechtervielfalt, Einsamkeit, Barock, Pommes, Asbest ... ja, ich würde sagen, wir fragen die Vögel selbst, worum's geht." Geboren in 1985 in Eckernförde, wurde sie von den Kritikern der Zeitschrift "Theater heute" zur Nachwuchsautorin des Jahres 2020 gekürt. Nach den vielen Pandemie-bedingten Hindernissen erlebte das Stück jetzt in Gießen seine deutsche Erstaufführung. Zu entdecken ist eine aufsehenerregende Inszenierung mit brillanten Schauspielern und trickreichen Regie-Einfällen. Die Messlatte für andere Theater wurde in Gießen hoch gelegt.


Ursula Hahn-Grimm, 24.10.2021, Gießener Anzeiger