Ein Plüschtier als Seelentröster - Gießener Allgemeine Zeitung
30.11.2021

Ein Ohrensessel lädt zur gemütlichen Lesestunde auf der taT-Studiobühne ein. Carolin Weber erzählt am ersten Advent die rührende Geschichte von Erika, dem knuddeligen Plüschschwein. Und sie zaubert den Zuhörern - trotz Masken - ein Lächeln ins Gesicht.

Elke Heidenreich ist eine fabelhafte Geschichtenerzählerin. Wer das Glück hatte, sie bei ihrer Lesung im Großen Haus des Stadttheaters vor knapp zwei Jahren live zu erleben, weiß, wie ansteckend ihr Enthusiasmus für Literatur sein kann. Wenn sie ihre ganz persönlichen Begegnungen mit dem Rhein lebendig und authentisch schildert, dann ist dies eine Sternstunde für jeden Büchernarr.

Passend zur Vorweihnachtszeit hat nun Carolin Weber eine etwas ältere Kurzgeschichte aus der flotten Feder der in Köln wohnenden Autorin ausgewählt. »Erika - oder der verborgene Sinn des Lebens« erschien bereits 1994 in dem Band »Kolonien der Liebe«. Pünktlich am Heiligen Abend macht sich Betty, die genervte Großstädterin aus Berlin, auf den Weg zu ihrem Ex-Freund Franz ins idyllische Lugano - nicht ohne vorher noch ein Geschenk für ihn zu besorgen.

Doch statt des Tontöpfchens mit grobkörnigem Senf ersteht sie für einen abenteuerlichen Preis ein riesiges, rosafarbenes Plüschschwein, dem sie gleich am Eingang zum KaDeWe in die rettenden Pfoten läuft. Spontan verliebt tauft Betty, die eigentlich Elisabeth heißt, es auf den Namen Erika. Zusammen machen die beiden sich nun mit Taxi, Flugzeug, Bahn und Bus auf die erlebnisreiche Reise in die Schweiz. Mit jeder Etappe, auf der sie sich ihrem Ziel nähern, fällt Stück für Stück der Stress von der völlig überarbeiteten Betty ab und sie gewinnt ihre verlorengegangene Lebensfreude wieder zurück.

Großstadtmärchen für Erwachsene

Wie es sich für eine ordentliche Märchentante gehört, liest die in einen Norwegerpulli und warmen Ringelsocken gehüllte Weber mit angenehmem Timbre Seite für Seite aus einem großen Buch vor - wahlweise entspannt im Ohrensessel sitzend oder auf einer Bank hinter einem langen Holztisch, auf dem viele glitzernde Schneekugeln und eine kleine Spielzeugeisenbahn für weihnachtliche Atmosphäre sorgen.

Unterbrochen wird der kurzweilige Vortrag nur ab und zu von Meldungen und Musik aus einem altbackenen Radio. Da haben die erfahrene Stadttheaterschauspielerin und ihre Ausstatterin Denise Schneider, die zusammen diesen unaufgeregten Abend eingerichtet haben, alles zusammengetragen, was ihnen zum Thema Schwein in den Kopf kam. Der Ärzte-Song »Männer sind Schweine« fehlt ebenso wenig wie Max Raabes sanfter Hilferuf »Kein Schwein ruft mich an«.

Heidenreichs Großstadtmärchen für Erwachsene, in dem Erika aber auch Kinderaugen zum Leuchten bringt, nimmt manch überraschende Wendung und berührt immer dann, wenn die offenherzige Autorin bruchstückhaft auf ihre eigene unglückliche Kindheit zurückblickt oder ungeschminkt vom Scheitern einer verkorksten Beziehung berichtet. Doch was wäre Weihnachten ohne Hoffnung? Schwein muss der Mensch haben!

Wer sich eine sonntägliche Mußestunde in den nächsten hektischen Wochen gönnen will, hat dazu (nach aktuellem Stand) noch am 12. und 19. Dezember sowie am 2. und 9. Januar im Theaterstudio Gelegenheit.

Eine besondere Ausgabe der originellen Geschichte hat die Büchergilde Gutenberg 2015 herausgebracht. Ihr Adventskalenderbuch, bei dem jeden Tag dank der Bindung eine Seite aufgeschnitten werden muss, blättert in 24 kurzen Kapiteln die ungewöhnliche Freundschaft von Betty und Erika auf, die von Alexandra Rügler ansprechend illustriert wurde.


Marion Schwarzmann, 30.11.2021, Gießener Allgemeine Zeitung