Ewig währender Wettbewerb - Gießener Allgemeine Zeitung
04.07.2022

Alleine das Setting dieser Aufführung war ein sehr ungewöhnliches: ein Ein-Mann-Stück in einem ehemaligen Kaufhaus. In »Wonderland Ave.« wirft Erfolgsautorin Sibylle Berg einen bitterbösen Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft der Arbeitswelt.

Das derzeit leerstehende Kaufhaus im Seltersweg ist ein passender Ort für die letzte Schauspiel-Premiere des Stadttheaters Gießen vor der Sommerpause, zugleich die letzte Premiere des alten Teams. Ausgewählt wurde ein Text der Erfolgsautorin Sibylle Berg, die für ihre bitterbösen Beschreibungen der Gegenwart samt Gruselfaktor beim Blick in die Zukunft bekannt ist. Man konnte also ahnen, dass ihr Stück »Wonderland Ave.« nicht so wunderschön ist wie der Titel verheißt.

»Wonderland Ave. heißt das Durchgangslager des ausgesonderten Humankapitals, eine Wellness-Oase, in der übriggebliebene Menschen Leben simulieren - ein ewig währender Wettbewerb um den perfekten Zustand.« Dieses Zitat fasst das 75-minütige Bühnengeschehen treffend zusammen. Der große Verkaufsraum ist weitgehend leer, spärliche Requisiten liegen an den Wänden herum. Auf einer einfachen Gartenliege wirft sich der Protagonist herum. Der Roboter wird ihn nicht in Ruhe lassen, fordert ihn mehrfach auf aufzustehen und sein Tagespensum zu absolvieren. Schließlich stehe er im Wettbewerb mit den anderen seines Transports.

Zurück ins alte Leben

Das Tagespensum besteht aus Alltagshandlungen und Fitnesstraining. Schauspieler Markus Pflüger ist heftig gefordert mit muskelstärkenden Übungen und Laufrunden, während er auch noch seinen Text im exakt getimten Dialog mit der Maschine sprechen muss. Seine Befindlichkeit wandelt sich von depressiver Müdigkeit zu motivierter Aktion bis zu unkontrollierter Aggression. Und ständig will die Maschine wissen, welchen »perfekten Zustand« er sich eigentlich wünscht. Am Ende bricht aus ihm heraus, dass er einfach nur sein altes Leben wiederhaben will: mit seiner Arbeit am Computer, mit sozialen Medien und Flatscreens. Hin und wieder auch Kontakt zu realen Menschen, wobei Geschlechtsverkehr am Ende nicht mehr so wichtig ist wie es zu Beginn schien.

Doch das Bild der Zukunft, das Sibylle Berg entworfen hat, lässt solche Dinge nicht mehr zu. Maschinen haben die Macht übernommen, der Mensch wird rundum kontrolliert und systematisch entsorgt. Es gibt keinen Ausweg aus der eigenen Nutzlosigkeit, was den Zuschauenden Schauer über den Rücken jagt, vor allem wenn die Anfänge dieser Entwicklung geschildert werden, die wir alle derzeit erleben. Inszeniert hat Regieassistentin Kirsten Eschner, die dramaturgische Arbeit leistete Carola Schiefke, die Ausstattung besorgte Nadezhda Pavlova. Das leerstehende Gebäude Seltersweg 85 beherbergte früher die Ferber’sche Buchhandlung, der aufwendige Umbau zum Konsumtempel funktionierte nicht, nun wird das Bauunternehmen Faber & Schnepp umgestalten.

Es gibt nur noch zwei Vorstellungen von Wonderland Ave., am 8. und 9. Juli. Sie finden im oberen Geschoss statt, der Zugang ist daher nicht barrierefrei.


Dagmar Klein, 04.07.2022, Gießener Allgemeine Zeitung