»Gold« am Gießener Stadttheater uraufgeführt - Gießener Allgemeine Zeitung
13.09.2021

Das Warten hat sich gelohnt. Endlich konnte Philipp Gärtners »Gold« auf der großen Bühne des Stadttheaters nach der Corona-Zwangspause uraufgeführt werden. Auch der Autor hat die Weltpremiere vor Publikum live miterlebt.

Dass einem schon ein kleiner Zwischenfall - aktuell reicht ein Virus - den Boden unter den Füßen wegziehen kann, wissen wir nun zur Genüge. Doch manchmal zerstört auch ein alltäglicher Zufall ein Lebensmodell. Das erlebt Radfahrerin Tilda im Schauspiel »Gold« von Philipp Gärtner, das nun im Großen Haus des Stadttheaters uraufgeführt wurde.

Ein Verkehrsunfall stürzt das Leben der Studentin in prekären, weil solo-selbstständigen Arbeitsverhältnissen in den Abgrund. Eine Katastrophe jagt die nächste und als wie im Sterntaler-Märchen Goldklumpen vom Himmel fallen, bringen die keine Hilfe, sondern nur Tod, Zerstörung und endgültiges Chaos. Tilda (wunderbar jugendlich-ungestüm gespielt von Johanna Malecki) verkriecht sich in der Kanalisation, wo ein Panoptikum skurriler Figuren auftaucht, die in wild durcheinander purzelnden Szenen ihre Erlebnisse vom Untergang ihrer scheinbar heilen kapitalistischen Welt schildern. Die Katastrophe, sie legt die schlechten Eigenschaften der Menschen schonungslos offen. Hoffnung, gar eine Lösung im Sinn einer neuen Gesellschaftsform, in der wirklich alle gleiche Chancen haben, gibt es in dieser Dystopie nicht.

Titus Georgi, Fachmann für zeitgenössische Texte, inszeniert Gärtners in zwei höchst unterschiedliche Teile getrenntes Debüt-Schauspiel als aberwitzigen Reigen der skurrilen Momente und Figuren. Im ersten Teil wird Tildas Geschichte im Stil des klassischen Erzähltheaters, samt Conférencier (Magnus Pflüger), der durch die Geschichte führt, geschildert. Den zweiten Teil versteht der Autor als »modulares System« und üppige Materialsammlung, was Georgi weidlich auskostet.

Fast 50 Rollen für neun Schauspieler

Wie Irrlichter blitzen die Szenen auf, fast das komplette Schauspielensemble wirbelt in mehr als vier Dutzend Rollen über die Bühne. Es fallen Sätze, die man gerne noch ein zweites mal hören würde, um sie in ihrer Komplexität in Gänze zu erfassen. Ein »güldenes Glossar« im Programmheft liefert Hilfestellung. Als Zuschauender (Gärtner zelebriert die Gendersprache genüsslich) weiß man manchmal kaum, wo man zuerst hinschauen und hinhören soll. Das fordert viel ab, sorgt aber auch dafür, dass die mehr als zweieinhalb Stunden der Vorstellung wie im Flug vergehen.

Ein apokalyptisches Vergnügen, denn bei all der Endzeitstimmung kommt der Spaß nicht zu kurz. Der »Dienstleister für fettige Telegramme«, sprich Pizzabote, der Querdenker mit Prepper-Attitüde, die Betreiberin des »ansatzweise antiimperialistischen Kiezcafés«, in dem Tilda kellnerte, die »potenzielle Vermieterin ihrer Einraumwohnung« - sie alle tauchen kurz auf und verschwinden dann wieder unter dem über allem schwebenden riesigen Gullideckel.

Die von Jochen G. Hochfeld entworfene Bühne - im ersten Teil eine Arena mit umlaufender Baufolie, im zweiten Teil komplett leer - schaffen den Raum für dieses Panoptikum mit aberwitziger, klischeehafter Kostümierung (ebenfalls Hochfeld). Ein goldglänzender Retriever-Hund, ein rosa Hase, ein Henker oder überforderte Polizisten mit gelben Namensbannern geben Vollgas. Männer schlüpfen in Frauenrollen, Kostüme werden im fliegenden Wechsel getauscht.

Die Musik von Parviz Mir-Ali liefert dazu den treibenden Beat, changiert zwischen 70er-Jahre-Krimiserien-Jingle, einer Art von Marschmusik und Rave-Ekstase.

Im zweiten Teil ist wohl so mancher im Publikum erst einmal vom abrupten Wechsel im Erzählstil überrumpelt. Konfusion auf der Bühne, Stutzen im Zuschauerraum. Warum die schon vor längerer Zeit in die Kanalisation geflüchtete Sandra (Paula Schrötter) ausgerechnet mit einem aluglänzenden Boiler (Magnus Pflüger) spricht, ist rational nicht zu erklären. Und auch der Dialog zwischen zwei Clownsnasen tragenden Autos über das Ende der Menschheit und die vermeintliche Unendlichkeit der Blechkarossen gehört zu den absurden Elementen, die Carolin Weber als griesgrämiger Nissan und Tom Wild als nervender Mazda mit komischem Talent zum Highlight machen. Ein echtes »Goldstück«. Anschauen dringend angeraten.

Karola Schepp, 13.09.2021, Gießener Allgemeine Zeitung