Grundregel des Lebens - Gießener Allgemeine Zeitung
04.06.2022

Traditionell gehört zum TanzArt ostwest-Festival auch die Premiere eines neuen Stücks der Tanzcompagnie Gießen für die taT-Studiobühne. Auch in diesem Jahr hat Ballettdirektor Tarek Assam dafür einen Gastchoreografen geholt: Thomas Noone. Am Donnerstagabend hatte das Gießener Publikum Gelegenheit, sein Stück »Die Goldene Regel« im taT kennenzulernen und war begeistert.

Thomas Noone ist gebürtiger Engländer, ging mit seiner spanischen Frau nach Barcelona, wo er 2001 seine eigene ThomasNooneDance Company gründete. Mittlerweile ist er dort künstlerischer Leiter des Dansat! Festivals, wurde von der Stadt Barcelona ausgezeichnet. Mit seiner Company gibt er Gastspiele in der ganzen Welt, ist aber auch gefragt als Choreograf für Stücke mit anderen Ensembles. Nun also mit der Tanzcompagnie Gießen (TCG). Es ist absolut faszinierend, zu sehen, wie unterschiedlich Tanz sein kann und wie sich gut die Tänzer und Tänzerinnen darauf einlassen.

Permanente Enscheidungen

Der Titel des Stücks wurde im Laufe von Corona mehrfach variiert, nun lautet er »Die goldene Regel«. Im Zentrum steht genau genommen die Frage, gibt es eine solche grundlegende Regel? Unser Leben besteht aus permanenten Entscheidungen, großen und kleinen, bewussten und unbewussten. Abweichungen können unser Denken und Handeln, auch unsere Emotionen verändern. Ab wann bemerken wir das?

Noone lotet das Thema in der Kombination von wechselnden Dreiecksbeziehungen aus, zwei gehen, eine bleibt, zwei andere kommen hinzu und immer so weiter. Er nutzt reduzierte Bühnenmittel wie eine dreiecksförmige Deckenstableuchte, die zwar in der Lichtstärke und -farbe wechselt, aber im Grunde einen sehr gleichbleibenden Eindruck hervorruft. Mit kleinen Variationen eben. Der Boden ist spiegelnd schwarz und gibt zusätzliche Lichteffekte. Die Tanzenden tragen bequeme Kleidung, luftige Hosen, T-Shirts und Socken in verschiedenen Farben (Licht und Kostüm Thomas Döll). - Der Sound wurde von Marti Noguer, einem katalanischen Komponisten, eigens für das Tanzstück geschrieben. Er gibt verschiedene Stimmungen vor: Unheimliches Dröhnen, harmonischer Gong, treibende Geigen oder tief brummende Bratschen, harter Techno-Sound, zielloses Wabern. Der Bewegungsstil ist weich fließend, sehr auf körperliche Nähe und das Miteinander konzentriert. Alle Raumebenen werden nach und nach genutzt, das Stehen und Drehen, das Liegen und Wälzen, das Heben und Fallenlassen. In der Premierenbesetzung sind es zwei Tänzer und vier Tänzerinnen.

Das erste Trio berührt sich körperlich überhaupt nicht, die Beeinflussung scheint auf energetischen Ebenen abzulaufen. Dann sind es drei Frauen, die sich beständig an den Händen berühren und die Position ihrer Köpfe sichern wollen. Das nächste Frauen-Trio bewegt sich rhythmisch zum Techno-Sound, erstmals fällt eine hin (Izabella Anastasiou). Sie wirkt unsicher, ängstlich. Wie verhalten sich die anderen beiden? Es gibt strenge, fast drohende Blicke, doch sie helfen sich wieder auf. Chiara Zincone entwickelt sich zur tonangebenden Figur.

In der folgenden Konstellation kommt ein Paar herein, bei dem er sie trägt, sie sich an ihn klammert. Hier gelingt es der dritten Person zunächst nicht, sich zu integrieren, wird sogar weggestoßen, weil sie die Zweisamkeit stört. Allmählich ändert sich auch diese Beziehung.

Grenzen ertasten

Die nächste Gruppe, bestehend aus den beiden männlichen Tänzern Oskar Eon und Floriado Komino mit Emma Jane Howley, brilliert in Hebefiguren, die in selten gesehener Variationsbreite dargeboten werden. Wirkt die Tänzerin anfangs wie eine passive Puppe, die herumgeschwenkt wird, löst sie sich aus der Abhängigkeit, wird aktiv und zähmt die Partner. Dann trägt die kleine Madeleine Salhani den großen Tänzer herein. Gemeinsam mit der Dritten nutzen sie die Rückseite ihrer Hände, um die eigenen Grenzen und die der anderen zu ertasten. Das wirkt erstaunlich ungewohnt.

Und zum Ende hin sind dann alle sechs auf der Bühne, es gibt eine Art Kurzrevue des Gesehenen und einen gemeinsamen, dynamischen Part. Dann verschwindet eine nach dem anderem, es bleibt nur noch eine verunsicherte Person, Licht und Sound sind wieder bedrohlich, alles zurück auf Anfang? Wenn in diesem Tanzstück eine grundlegende Regel gefunden wurde, dann die, dass gemeinsam alles besser geht.


Dagmar Klein, 04.06.2022, GIeßener Allgemeine Zeitung