Hemmungsloser Rausch bleibt aus - Gießener Anzeiger
02.11.2020

Rundum gelungene Premiere der Operette „Die Fledermaus“ im Gießener Stadttheater / Darsteller agieren ausnahmslos quicklebendig

Nicht seine Majestät, der Champagner behält das letzte Wort. Und die Fledermaus wirft ihre Schatten von unerwarteter Seite. Unter der Regie von Cathérine Miville und in Zusammenarbeit mit dem Textdichter Lars Ruppel erfuhr die berühmte Operette „Die Fledermaus“ von Johann Strauss eine erhebliche Bearbeitung und erscheint nun in vieler Hinsicht in neuer Gestalt auf der Bühne des Gießener Stadttheaters. Die Premiere am Samstag ist rundum gelungen.

Man möchte die Inszenierung nicht eine Notlösung in Zeiten von Corona nennen: Nicht Abstandsregeln oder Hygienekonzepte, nicht Einschränkungen bei der Arbeit im Graben, noch der verwaltungstechnische Blick auf die mögliche Spiellänge bestimmten unangemessen die Umsetzung dieser sonst bis zu drei Stunden füllenden „Königin aller Operetten“. Natürlich spielte das eine Rolle (und darauf ist später noch einzugehen). Aber die Champagner-Inthronisation auszulassen und stattdessen das Stück leiser ausklingen zu lassen, zeigt doch eine entschiedene Reserviertheit gegenüber dem hemmungslosen, fröhlich die Augen verschließenden Rausch im Angesicht einer realen gesellschaftlichen und ökonomischen Krisensituation, wie ihn Strauss’ Protagonisten zelebrieren.

Da liegt ein Bezug des 1874 in Wien uraufgeführten Stücks zu unserer Gegenwart. Der zweite Akt, inszeniert als Mottoparty unter der Überschrift „Apocalypse joyeuse, Vienne 1875“ spielt auf die damalige wirtschaftliche Depression an, die allerdings durch Börsenmanipulationen und nicht durch Virusmutationen bewirkt wurde. Der Rest der im Milieu eines ziemlich gut situierten Bürgertums spielenden Handlung ist in unserer Gegenwart angesiedelt. Das berühmte „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“ kann sich nicht so recht durchsetzen. Dem setzt Frosch, der Gerichtsdiener (die Sprechrolle wird nonchalant und unklamaukig verkörpert von Harald Pfeiffer), ein „Glücklich ist, wer versteht, was da gerade vor sich geht“ entgegen.

Lars Ruppels Textfassung macht mit der ausgeweiteten Sprechrolle aus der Not eine Tugend: Wie ein leicht mephistofelischer Conférencier führt die Figur durch die neu gesponnenen Handlungskonstellationen der stark gekürzten Fassung, zugleich mit einer gewissen Boshaftigkeit gegen den Stachel vermeintlich bloß eskapistischer Operettenunterhaltung löckend: Handelt es sich bei dem abgekarteten Spiel nicht eigentlich um eine umfassende Verschwörung gegen das Publikum?

Zu ernst darf das Ganze natürlich auch nicht sein – und die Inszenierung bietet jenseits einiger ironischer Corona-Spitzen genügend Raum für alltagsenthobenes Lachen – ein Lachen, das sich einfach guter Unterhaltung verdankt. Dafür sorgten die sängerisch und schauspielerisch ausnahmslos quicklebendig auf der mit geschwungenen Freitreppen und prägnanten Farben gestalteten Bühne (Lukas Noll) agierenden Darsteller. Netta Or gab als Rosalinde ihr Debüt in Gießen, vielleicht nur manchmal ein bisschen zu dramatisch (etwa im sonst hoch zärtlichen Verbund mit der Klarinette des Salonorchesters in „So muss allein“), aber sicher in den Kapriolen und fidelen Höhen ihrer Partie.

Ihr zur Seite stand ein stimmlich hervorragender Tilmann Unger als Eisenstein, dessen laufstegfähiges gelb-violettes Alltags-Outfit (Kostüme: Katharina Sendfeld) das Zeug hätte, modische Trends zu setzen. Annika Gerhards verkörperte stimmlich mit Leichtigkeit und Witz Adele, die sich für die Party von der (systemrelevanten) Pflegefachkraft in das einfache Stubenmädchen Ottilie Binder verwandelte. Nicht zuletzt wohl auch, um den faden Geschmack fragwürdigen Gönnertums à la Weinstein im Schlussakt zu vermeiden, zeigte sie ihr Schauspieltalent mit der Arie „Spiel ich die Unschuld vom Lande“ schon gleich zu Beginn, wo ohnehin bereits alle (außer Eisenstein selbstredend) von Dr. Falke in den Plan eingeweiht werden. Den sang gut gelaunt Grga Peroš.

Travestie beherrschte dann die Ball-Szenen: Hier ist natürlich keiner äußeren Erscheinung zu trauen. Eisenstein erschien im Kostüm der Marquise (die man sonst von Adele erwartet hätte), auch Frank (Tomi Wendt) fügte sich in das Spiel mit den Geschlechterrollen ein, das vom Gastgeber höchstselbst mit Glamour in Szene gesetzt wurde: Der südafrikanische Countertenor Denis Lakey gab den Prinzen Orlofsky als extravaganten, leicht tuntigen Transvestiten, und konnte dabei einmal mehr die Variabilität seiner Stimme zwischen komisch-charakteristischem Fach und zum lyrisch-warmen Ton unter Beweis stellen. Daniel Arnaldos verkörperte einen mit allergrößtem Charme gespielten und überzeugend mit spanischem Liebesfeuer singenden Alfred.

Kleine Meisterleistung

Welches Orchester, könnte man sich jetzt fragen, hat denn nun die rauschende Ballnacht-Musik gespielt, die üppigen Walzer und die süffigen Couplets? Keines, ist die Antwort. Bei der Musik mussten naturgemäß die stärksten Einschnitte gemacht werden, denn nur 14 Musiker durften im Graben spielen. Andreas Kowalewitz’ Fassung ist eine kleine Meisterleistung; immer wieder entwickelten sich da kammermusikalische, blaskapellenartige und salonmusikalische Farben, die verblüffend gut zu den großen Gesangsnummern passten. Aber Klangmasse und Cremigkeit lassen sich da nicht erwarten; dementsprechend stieß das Ensemble dort an seine Grenzen, wo die Musik selbst sonst den Rausch entfaltet. Die Ouvertüre wurde gleich sinnvollerweise ausgelassen, aber der Rückgriff auf Teile daraus in der Überleitung zum zweiten Akt klang doch arg dürftig. Grandios dagegen war ein Potpourri aus unterschiedlichsten Schlagern, Liedern und Arien als „Kulturbeitrag“ vor dem kalten Büffet.

Am Ende ging übrigens alles recht schnell, und unversehens war man in den theaterfreien November entlassen. Das ist bitter nach einer solchen Premiere. Zum Glück darf zumindest weiter geprobt werden. Hoffen wir auf weitere Vorstellungen der Operette im Dezember.


Karsten Mackensen, 02.11.2020, Gießener Anzeiger