Hinreißendes Monumentalwerk - Gießener Allgemeine Zeitung
24.01.2022

Wagners Musikdrama »Tristan und Isolde« ohne Inszenierung. Geht das? Es geht. Wie das Stadttheater in einer grandiosen Darbietung beweist.

 

Das Gute an einer konzertanten Aufführung: Weder Sänger noch Zuschauer müssen sich mit etwaigen Ideen eines Regisseurs herumschlagen. Der Nachteil: Ohne Inszenierung versammeln sich die Aktiven auf der Bühne und trotzen unisono der ungezeigten Handlung. Richard Wagner hätte die Story nicht links liegen lassen. Schließlich wollte er für »Tristan und Isolde« die allergrößte Liebesmusik schreiben. Herausgekommen ist ein sehnsüchtiges Kammerspiel, die drängende Suche nach der Zweisamkeit im Tal der Einsamen, aber auch ein blutrünstiges Musikdrama, das nach Aktion schreit. Doch es hilft nichts. Die beengte Situation im Graben lässt im Stadttheater keine andere Möglichkeit als die konzertante zu.

Geschadet hat es dem »Tristan« nicht. Im Gegenteil. So gänsehautheischend wirkt selten eine Oper. Das klagende Sterbesolo von Heldentenor Heiko Börner treibt einem vor Intensität das Wasser in die Augen. So feierte Wagners Prachtstück in drei Aufzügen am Sonntag im Stadttheater bejubelte Premiere mit Standing Ovations. Die Solisten, das hervorragend disponierte Philharmonische Orchester Gießen mit seinem Generalmusikdirektor Florian Ludwig sowie der aus dem Off singende Herrenchor glänzten.

Statt Gift ein Liebestrank

Für alle, die sich der nächsten und letzten Aufführung am 6. Februar widmen wollen, hier das Nötigste von dem, was es auf der Bühne nicht zu sehen gibt. Zunächst ist da die Vorgeschichte. Die irische Königstochter Isolde pflegt den verletzten Tristan gesund, obwohl sie weiß: Er hat ihren Verlobten im Kampf umgebracht. Der genesene Tristan überzeugt seinen Onkel, Cornwalls König Marke, Isolde zu heiraten, um den Frieden mit Irland zu besiegeln, und segelt wieder dorthin.

Der erste Akt beginnt. Auf dem Schiff zurück nach Cornwall. Isolde will den alten König nicht heiraten, außerdem hat sie mit Tristan noch ein Hühnchen zu rupfen. Sie weiht ihre Dienerin Brangäne ein. Missverständnisse treten auf. Isolde verzweifelt. Das Ende von ihr und Tristan scheint nah. Doch statt Gift schlürfen beide einen Liebestrank.

Der Liebes-Akt, der zweite Aufzug, in dem Dirigent Ludwig statt der weißen eine rote Weste unter seinem Frack trägt, spielt im Garten vor dem Gemach Isoldes. Tristan trifft die Holde zur »Nacht der Liebe«. Als es dämmert, tritt ein empörter König Marke auf den Plan. Der Höfling Melot verletzt Tristan schwer. Das letzte Bild zeigt Tristans Burg. Er ist im Fiebertaumel. Isolde eilt herbei. Tristan stirbt in den Armen der Geliebten. König Marke taucht auf und hat den Plot endlich kapiert. Tristans Knappe Kurwenal und Melot hauen sich dennoch die Schädel ein. Isolde geht ebenfalls dahin. Vorhang.

Das auf 70 Musiker erstarkte Orchester agiert aus der Tiefe des Raums heraus hinreißend unter Ludwigs Dirigat. Trotz Corona erklingt die komplette Oper - lediglich die berühmte Tag-Nacht-Wende im zweiten Akt lässt der Mann am Pult sausen, stattdessen wird das Publikum von einem Lichtstrahl geblendet. Mit Edith Haller und Heiko Börner sind Isolde und Tristan stilsicher besetzt. Hallers bayreutherfahrener Sopran zeigt bei guter Textverständlichkeit in der Höhe Strahlkraft und Biss, in der Mittellage eine sensitive Färbung. Ilkka Vihavainen gibt mit klarem Bass sein Rollendebüt als König. Ensemblemitglied Grga Peroš macht den Kurwenal zum Heldenbariton. Michaela Selinger (Brangäne) verfügt über einen ergreifenden Mezzosopran. In kleinen Rollen sind Andreas Karasiak (Melot), Yoseph Park und Josua Bernbeck zu sehen.

Oft nach Cornwall geschippert

Geradezu fahrlässig ist es da vom Stadttheater, dieses 1865 uraufgeführte Monumentalwerk nur noch ein einziges weiteres Mal zu zeigen (weil man das bei konzertanten Opern immer so macht!).

Noch ein Wort zum Tristan. Heiko Börner hat in Gießen studiert, ehe er als lyrischer Tenor reüssierte, um danach das Heldenfach zu stürmen. Er ist schon oft von Irland nach Cornwall geschippert und hält sich in den ersten beiden Aufzügen zurück, um im dritten durchzustarten. Börner benötigt keine Partitur, weil er das Stück auswendig kennt. Er liebt und leidet, ächzt und stöhnt. Statt sich am Ende einfach wieder hinzusetzen: Sollte er bei so viel Grandezza im Finale am 6. Februar nicht an Isoldes Busen sterben, wie es dem Tristan gebührt?


Manfred Merz, 25.01.2022, Gießener Allgemeine Zeitung