Hinter der Bühne geht’s weiter - Gießener Anzeiger
25.04.2022

»Brave Kids«: Cathérine Mivilles letzte Gießener Inszenierung vom Publikum gefeiert

Ein Theaterabend kann die ganze Welt aus den Angeln heben – zumindest solange, bis das Saallicht angeht und sich die Bühnenmagie urplötzlich verflüchtigt. Davon erzählt das gewitzte, temporeiche und bisweilen auch erhellende Bühnenwerk »Brave Kids« im Großen Haus des Stadttheaters. Es ist die letzte Inszenierung der am Saisonende scheidenden Intendantin Cathérine Miville – und ein Stück, das sich zum nächsten Gießener Bühnenhit entwickeln könnte.

Geplant war es ursprünglich nicht, diese Geschichte an das Ende ihrer 20-jährigen Amtszeit zu stellen, wie die Hausherrin im Vorabgespräch berichtete. Doch Corona warf über die vergangenen zwei Jahre alle (Spiel)-Pläne über den Haufen. Und nun passt »Brave Kids« inhaltlich wie stilistisch perfekt, um einen Schlusspunkt unter ihre lange Intendanz zu setzen. Geboten wird eine Reflexion auf das Theatermachen, auf Künstler, Medien und Publikum sowie auf die Brüche zwischen den Generationen – ohne bei all dem Stoff aber verkopft oder blutleer daherzukommen. Im Gegenteil: In diesem knapp dreistündigen Stück gibt es, in dicht aneinandergereihten Spielszenen, unglaublich viel zu sehen, zu hören und zu entdecken, was diesen Abend zu einem großen Vergnügen macht.

Den roten Erzählfaden bietet die Persiflage eines großen deutschen Medienkonzerns der Sorte Bertelsmann oder Springer. Aus einem kleinen Anzeigenblättchen und Druckereigeschäft ist im Laufe von 100 Jahren Firmenhistorie ein Imperium erwachsen, das mittlerweile alle digitalen Kanäle bespielt, einen eigenen Fernsehsender besitzt und sogar einen direkten Draht zu Bundespräsident Steinmeier besitzt. Das Gießener Publikum ist nun als verdiente Mitarbeiterschaft des Hauses Wohl (Werbespruch: »Wohl tut wohl«) zu einer Jubiläumsgala ins Stadttheater eingeladen. Mit eigens ans Handgelenk gehefteten Bändchen darf es nach einer kurzen Einführung hinter der Bühne (Einrichtung: Lukas Noll) Platz nehmen und dabei sein, wenn dort Künstler, Techniker und andere illustre Figuren vor den Auftritten zusammentreffen.

Eine Frau hält den Laden am Laufen

Im Zentrum des Geschehens steht die Frau, die den Laden am Laufen hält. Die mit allen Wassern des Business gewaschene Eventmanagerin Bogdanovic (souverän: Carolin Weber), die per Headset und eindeutigen Anweisungen für einen reibungslosen Ablauf der Show sorgt. Dennoch gerät sie in diesem Hinterbühnenchaos mächtig unter Druck. Schließlich gilt es, dem eitlen Konzernpatriarchen Dr. Dr. Friedrich Wohl (Harald Pfeiffer) keinen Grund zum Unmut zu bieten. Dies ist seine Show (und sein Geld), und so darf er sich auf der unsichtbaren Bühne ausschweifend selber feiern, während das Publikum hinter der Bühne mitbekommt, wie es in diesem Hause wirklich zugeht.

Stellenstreichungen, Konzernprofite, sogar ein eiskalter katarischer Investor (Tom Wild) tragen zum kompletten Bild in Sachen »Wohl Media« bei. Eine satirisch eingefügte Telefon-Spendengala mit zahlreichen TV-Promis sorgt dabei für einen der schönsten Programmpunkte des Abends. Doch dann sind da noch die echten Künstler, von denen das Stadttheater in »Brave Kids« jede Menge aufbieten kann. Dazu gehören die aus Gießener Operninszenierungen bekannten Sänger Karola Pavone, Carla Maffioletti und Tomi Wendt. Ebenso dabei ist das Musical-Duo Andrea Matthias Pagani und Sophie Berner, das am Ende des Abends mit einem Hit-Medley für eines der musikalischen Highlights sorgt. Er schlüpft zudem in verschiedene Rollen wie die eines IT-Mitarbeiters, sie glänzt darüberhinaus als abgebrühte Diva, die für Geld alles wegmoderiert, was ihr Management an Engagements an Land ziehen kann.

Zwischen den unterschiedlichen Musikstücken – Klassik, Chansons, Musicalsongs – kommt es im Laufe des Abends immer wieder zu kurzen, mit Videos angereicherten szenischen Kapiteln. Da werden Unternehmensmitarbeiter interviewt, der Betriebsrat spukt durch die Gänge, ein Bühnentechniker und ein abgehalfterter Schauspieler geben ihren Senf dazu, während eine vierköpfige Band (Leitung: Andreas Kowalewitz) den Takt zu halten versucht. In diesen Szenen stecken jede Menge schnelle, auf den Punkt kommende Pointen, die die Handschrift von Lars Ruppel zeigen, dem Local Hero der bundesweiten Poetry-Slam-Szene, der die Story mitentwickelt hat.

Der Nachwuchs macht, was er will

Und dann sind da noch die Kinder. Der Nachwuchs eines Stipendiaten-Programms von Wohl Media soll dem Herrn Chef ein Ständchen singen. Tatsächlich handelt es sich um den Jugendchor des Stadttheaters, der sich hier als ebenso stimmfest wie selbstbewusst zeigt. Die »lieben Kleinen« hacken und verfälschen die Stimme des Bundespräsidenten bei einer Direktschalte, klauen der Diva-Sängerin ihr Handy und machen auch sonst so ziemlich, was sie wollen. Ganz ungeschoren kommt der freche Nachwuchs in diesem bunten Bühnenspektakel allerdings auch nicht davon. Ein Song der »Influencerin Larissa Sternenstaub« (Carla Maffioletti) karikiert die Handy- und Social-Media-Sucht der Teenager. Doch die sorgen im großen Finale dafür, dass in dieser Gala wirklich kein Stein auf dem anderen bleibt. Sie zetteln eine Revolution an, lassen einen großen Luftballon-Globus fliegen und die ganze Gesellschaft von einer besseren Zukunft träumen.

Dann geht irgendwann das Saallicht an, und der ungerührte Bühnentechniker (Sebastian Songin) kündigt sich seiner Partnerin  per Handy an: »So, ich komme jetzt nach Hause. Es war ein ganz normaler Theaterabend.«
Das Premierenpublikum sah das allerdings ganz anders. Für Regisseurin Cathérine Miville und ihr vielköpfiges Team gab es am Premierenabend Standing Ovations. Diese vielgestaltige, eindrückliche Bühnenillusion dürfte sich so schnell wohl nicht verflüchtigen.


Björn Gauges, 25.04.2022, Gießener Anzeiger